Nutzte mein Bruder Sherlock je die Untergrundbahn? In keinem von Dr. Watsons Berichten hatte ich gelesen, dass der große Detektiv einmal einen Fuß in den Untergrundbahnhof gesetzt hätte, der so praktisch nur einen halben Block von seiner Unterkunft entfernt gelegen war.
»Bitte, Euer Gnaden«, drängte ich meinen aristokratischen Klienten, »erzählt mir genau, was sich zugetragen hat.«
»Lächerlich und unnütz!« Duque Luis Orlando del Campo hob abwehrend beide Hände, die in hellem Ziegenleder steckten. »Ich kann diese Geschichte unmöglich länger wie ein Papagei wieder und abermals wiederholen. Ich verlange, dass Sie Dr. Ragostin rufen!«
Ich will dem geneigten Leser die zahlreichen Schmeicheleien, Beruhigungsversuche, Wassergläser und die Zeitverschwendung ersparen, die es mich kostete, bis ich ihm einen verwirrenden Bericht entlockt hatte. Zusammenfassend soll genügen, dass seine Gattin, Ihro Gnaden, die Duquessa, aus unbekannten Gründen in die Unterwelt des Baker-Street-Untergrundbahnhofs hinabgestiegen war. Eine ihrer Hofdamen hatte den Mut, sie zu begleiten. Die andere wartete oben am Eingang. Schließlich war die erste Hofdame höchst verstört die Treppen wieder hinaufgerannt. Wo war die Duquessa? Anschließend gingen beide hinunter, um sie zu suchen, jedoch ohne Ergebnis. Die hochwohlgeborene Schönheit Blanchefleur del Campo war wie vom Erdboden verschluckt.
Wie überaus faszinierend. »Die Polizei hat die Suche aufgenommen, vermute ich?«
Er hob das wild entschlossene, verzweifelte Gesicht. »Ja, sie haben nach ihr gesucht, aber keine Spur von ihr gefunden.«
»Könnte sie einen anderen Ausgang genommen haben?«
»Man hat mir versichert, dass es keinen zweiten gibt. Es ist lächerlich anzunehmen, sie könnte auf den Gleisen spazieren gegangen sein.«
Lächerlich, in der Tat, würde man nicht nur in den Genuss der Gesellschaft von Ratten kommen, sondern auch das Risiko eingehen, von einem herannahenden Zug überfahren zu werden. »Könnte sie aus irgendeinem Grund in einen der Züge gestiegen sein?«
»Als sie verloren ging, passierte kein einziger Zug den Bahnhof. Was das angeht, schwören es beide Hofdamen hoch und heilig, und der Fahrplan der Untergrundbahn bestätigt es.«
»Dennoch, wäre die Duquessa am Bahnsteig geblieben oder die Treppe heraufgekommen, hätten die beiden sie gesehen.«
»Ganz genau! Es ist ein Ding der Unmöglichkeit! Ich weiß nicht mehr ein noch aus.«
»Haben Sie eine Lösegeldforderung erhalten?«
»Noch nicht. Ich wage zu behaupten, dass dies noch eintreten wird. Nicht nur ich bin gut gestellt, auch ihr Vater, der Earl – sehr reich –, dennoch ist solch eine bizarre Entführung unvorstellbar. Unvorstellbar! Wie hat man sie fortgebracht? Ohne gesehen zu werden? Wo doch niemand sich hätte denken können, dass sie einen solchen Ort überhaupt betreten würde – allein eine fixe Laune kann sie dazu bewogen haben!«
»Was für eine Laune könnte das gewesen sein, Euer Gnaden?«
»Das hat mir bisher niemand zu meiner Zufriedenheit erklären können. Die Hofdamen der Duquessa verfallen in Hysterie, sobald ich sie befrage, und der Polizeiinspektor hat ebenso wenig etwas Vernünftiges aus ihnen herausgebracht. Die ganze Welt ist verrückt geworden. Ich glaube, ich verliere selbst noch den Verstand! Ich habe mich bereits an Mr Sherlock Holmes gewandt …«
Welchen Satz mein Herz tat!
»… doch er befindet sich derzeit an irgendeinem lächerlichen Ort auf dem Lande und wird erst heute zurückerwartet. Genau genommen …«
Der verstörte Duque Luis Orlando del Campo zog eine prächtige Golduhr aus seiner Weste und warf einen Blick darauf. »Er sollte in diesem Moment bereits auf mich warten. Ich muss los.« Er stand auf. »Wenn Sie Dr. Ragostin bitte ausrichten –«
»Euer Gnaden, ich bin gewiss, der Doktor«, unterbrach ich ihn mit fester Stimme, wenngleich meine Gedanken Purzelbäume schlugen, »wird mit den Hofdamen Eurer Gattin sprechen müssen.«
»Beide stehen vollkommen neben sich.«
»Absolut verständlich. Dennoch muss man sie befragen. Doch wenn sie sich schon nicht Euch oder dem Polizeiinspektor anvertrauten, werden sie erst recht nicht mit einem fremden Mann reden.«
»Wahr. Wie wahr«, murmelte er verzweifelt, während seine wilden Blicke im Zimmer umherschweiften und schließlich an mir hängen blieben, als hätten sie Erleuchtung gefunden. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie , eine Frau, sie befragen würden? Wären Sie damit einverstanden?«
»Selbstverständlich.« Ich unterdrückte es, ihm dazu zu gratulieren, so schlau auf die Lösung gekommen zu sein, auf die ich ihn hatte stoßen wollen. »Eure Adresse, Euer Gnaden?«
Als ich Duque Luis Orlando del Campos Residenz in der Oakley Street zum ersten Mal erblickte, blinzelte ich überrascht. Höchst unerwartet handelte es sich dabei um orientalisierende Architektur, und das in dieser exklusiven Nachbarschaft nahe dem Themse-Uferdamm. In nahezu ganz London konnte man neogriechische, georgianische, italienisch anmutende, französische, schweizerische, bayerische Bauten ad infinitum vorfinden – häufig auch bedauerliche Mischungen –, doch kaum trifft man je auf Orientalistik. Das aus gelben Ziegeln erbaute Haus scheute geschmackvollerweise Töne von Ocker, Oliv oder Rostrot und bevorzugte stattdessen zinnoberrote Zierleisten und pfauenblaue Dächer. Rubinrote und smaragdfarbene Buntglasfenster funkelten unter rotweiß gestreiften Spitzbögen. Übergroße Fliesen im Schachbrettmuster bedeckten die Eingänge und die Erkerfenster, Türmchen et cetera wurden nicht nur von gewöhnlichen Schindeln überdacht, sondern von bronzenen Kuppeln, wie etwa aus Tausendundeine Nacht . Während ich mich der Eingangstür näherte und einen Türklopfer in Form eines grinsenden Dschinn betätigte, bereitete ich mich mental auf so ziemlich alles vor. Vielleicht ein Butler mit Turban?
Nein. Ein vollkommen gewöhnliches Zimmermädchen in einem geblümten Kleid öffnete mir die Tür, um mich einzulassen, und hielt mir das obligatorische Silbertablett für Dr. Ragostins Karte hin, die ich handschriftlich um meinen neuen Alias ergänzt hatte: Mrs John Jacobson.
»Ist Mr Sherlock Holmes ebenfalls anwesend?«, fragte ich das Zimmermädchen.
»Noch nicht, Madam. Wir erwarten ihn in Kürze.«
Oh weh. Wenn Sherlock auftauchte, würde ich einen Weg finden müssen, mich rasch in Luft aufzulösen.
Das Mädchen brachte meine Karte zu den Hofdamen. Keine Zofen, wohl gemerkt, oder gar Gesellschafterinnen, sondern Hofdamen, nicht weniger. Hmm. Das könnte interessant werden, überlegte ich, während ich in einer faszinierend bogenförmigen Eingangshalle wartete, die erfüllt war von geschnitztem Rankenwerk und durchlocht von Nischen. Hier gab es nicht das übliche Meissner Porzellan zu sehen, sondern eine Sammlung seltsamer Gefäße aus Ton und Bronze, die wie alle möglichen Tiere geformt waren: Elefanten, Löwen, Störche, kämpfende Hähne, Delfine, Krokodile, Katzen – nein, erkannte ich einigermaßen erschrocken, die Katzen waren echt. Schlanke, schmucke, orientalisch anmutende Hauskatzen fläzten sich inmitten der Kuriositäten und liefen mit unbekümmerter Balance über die schwungvollen Zierden des geschnitzten Holzes. Alles in allem ergab dies eine solch exotische Atmosphäre, dass ich halb erwartete, in einen Harem geführt zu werden, als das Zimmermädchen erneut erschien, um mich nach oben zu bringen.
Das Boudoir enttäuschte mich nicht. Die Wände waren oberhalb ihrer elfenbeinfarbenen Vertäfelungen vollständig bedeckt von herrlich bunten, sternförmigen Fliesen, die man geschickt zusammengesetzt hatte. Entlang der niedrigen Deckenwölbungen verlief eine Borte aus dicken, stilisierten gescheckten Pferden. An einem Teil der Wand hingen persische Miniaturen in Elfenbeinrahmen. Am Boden lag ein überaus weicher türkischer Teppich mit einem prächtigen Muster. Insgesamt war der Effekt erfreulich fremdländisch.
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