In der einleitenden Zusammenfassung (Kap. 1) hat sich die zentrale Stellung des Ichs in der psychoanalytischen Konflikttheorie bereits angedeutet. Gemäß dem Lustprinzip, das vollständig betrachtet aus dem Streben nach Lust und dem Vermeiden von Unlust besteht, setzt die Abwehr dann ein, wenn eine Vorstellung mehr Unlust als Lust nach sich ziehen würde. Das wiederum bedeutet, dass eine Tätigkeit des Ichs eintritt, denn zu deren Funktionen gehört die Abwehr. Das Ich ist es also, das zum einen in irgendeiner Weise einen Konflikt aus Lust-Aufsuchen und Unlust-Vermeiden erkennen muss; gemäß dem Instanzen-Modell zwischen Es, Über-Ich und Außenwelt. Auch triebtheoretisch lassen sich Konflikte beschreiben, so etwa zwischen Sexual- und Selbsterhaltungstrieb, zwischen Trieb und Narzissmus oder zwischen Eros und Todestrieb). So heißt es auch, die Verdrängung gehe »von der Selbstachtung des Ichs« aus (Freud, 1914c, S. 160), es ist »die eigentliche Angststätte« (1923b, S. 287) – Zum anderen wird ebenfalls durch das Ich dann mittels der Abwehr eine kompromisshafte Bewältigung eingeleitet. Schon früh spricht Freud vom »abwehrlustige[n] Ich« (1895d, S. 280) und meint zu dieser Zeit vor allem die hemmende Funktion, die das Ich auf den Primärprozess ausübt (vgl. Storck & Billhardt, 2021). Etwas am Ich ist also unbewusst (andernfalls könnte eine psychische Abwehr nicht erfolgreich sein), aber zugleich gibt es eine Selbstbeobachtung und zielgerichtete Konfliktabwehr.
Ein weiteres häufig wiedergegebenes Zitat Freuds betrifft die Folgerungen für die Zielsetzung analytischer Behandlungen. Die Absicht der »therapeutischen Bemühungen der Psychoanalyse« sei, »das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden.« (Freud, 1933a, S. 86) Eine erfolgreiche Behandlung zieht es im Verständnis Freuds nach sich, dass das Ich mehr oder andere Bereiche der inneren Welt in den Blick nehmen kann als zuvor.
Auch in der Geistesgeschichte überhaupt hat die Auseinandersetzung mit Ich und Selbst eine lange Tradition, sie taucht in Descartes’ »Ich denke, also bin ich« auf, dessen Hauptgedanke darin besteht, dass es der Zweifel ist, der durch seine Möglichkeit die Existenz des Ichs belegt: Nur wer infrage stellen kann, ob es ihn gibt, kann sich, und zwar darin, seiner selbst gewahr und gewiss sein. Ferner spielen Figuren des (transzendentalen) Ichs oder des Selbstbewusstseins im Deutschen Idealismus oder in der Romantik (das Ich in seiner Naturhaftigkeit oder potenziellen Entgrenzung) eine Rolle. Auch in der, vergleichsweise jungen, Psychologie finden sich leitende Gedanken dazu, allen voran die Unterscheidung zwischen »I« und »me« bei William James. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts werden vermehrt Figuren eines dezentrierten oder flüchtigen Ich (bzw. Selbst) oder Figuren der grundlegenden Selbstentzogenheit oder Selbsttäuschung zum Thema. Für die Psychoanalyse sind besonders diejenigen Aspekte oder Spannungen im Begriff wichtig, die sich gleichsam zwischen den Sprachen zeigen, so etwa das »I« und »me«, das sich nur bedingt in »Ich« und »Mich« (= Ich als Objekt meines Erlebens) übersetzen lässt, aber auch, dass im Englischen Freuds Ich im Instanzen-Modell als »Ego« auftaucht und damit deutlicher vom »Ich« als einer subjektiven Erlebnisperspektive unterschieden ist. Im Französischen schließlich, das wird sich in der Darstellung der Theorie Lacans besonders deutlich zeigen (
Kap. 3.3.1u.
Kap. 5.1.3), taucht die Unterscheidung James’ in anderer Form wieder auf, nämlich als »Je« und »moi«, als Subjekt der Aussage und Subjekt des Aussagens.
Wie häufig beim Anliegen einer konzeptuellen Klärung, so ist auch für die Untersuchung von Ich und Selbst eine kurze Skizze über die wichtigsten psychoanalytischen Schulen nützlich. Von Pine (1988) sind vier »Psychologien« der Psychoanalyse unterschieden worden, die Triebtheorie, die Ich-Psychologie, die Selbstpsychologie und die Objektbeziehungstheorie. Darin finden sich bereits terminologisch Ich und Selbst, dabei werden in der Regel Hartmann mit dem Ich und Kohut mit dem Selbst verbunden. Hinzu kommt, dass sich die Richtungen weiter differenziert haben, so ist die strukturale Psychoanalyse Lacans mit ihrer vehementen Kritik am Ich-Begriff der nordamerikanischen Ich-Psychologie zu nennen oder die ebenfalls in Gegenbewegung zur Ich-Psychologie entstandene relationale Psychoanalyse. Die Selbstpsychologie wiederum steht historisch der Säuglings-, Kleinkind- und Bindungsforschung näher. Die Mentalisierungstheorie knüpft dort, wo sie psychodynamisches Denken weiterführt, neben der Theory of Mind, der Bindungsforschung oder der akademischen Entwicklungspsychologie, an verschiedene Richtungen der Psychoanalyse an, am deutlichsten an die Objektbeziehungstheorie.
Im Folgenden geht es um eine kurze Skizze der Entwicklung von Ich und Selbst im Werk Freuds (vgl. zur Begriffsentwicklung z. B. Hartmann, 1956; Laplanche & Pontalis , 1967, S. 184ff.), und zwar in drei Schritten: Erstens geht es um das Ich in seiner hemmenden Funktion, zweitens um die Narzissmustheorie und die Stellung des Selbst darin, sowie drittens um das Ich im Instanzen-Modell.
2.1 Hemmung und Ich-Spaltung
In einer ersten Phase, zwischen 1895 und 1900, erfährt der Ausdruck »Ich« bei Freud eine häufige Verwendung in teils unterschiedlicher Bedeutung, mal im Zusammenhang der Behandlungstheorie, mal in der Abwehrlehre und mal als Teil des psychischen Apparates. Das Ich ist für Freud (1895d, S. 280) hier ein »abwehrlustiges Ich« und taucht als »Stätte des Konflikts« (Laplanche & Pontalis, 1967, S. 188) auf. Ein Konflikt aus Lust und Unlust (auf der Grundlage entsprechender neuropsychologischer Bahnungen) wird »am« Ich deutlich und dieses ist es zugleich, das eine hemmende Wirkung auf Erregungsabläufe ausübt, es steht für den Sekundärprozess und das das Denken. Das Ich ist dafür zuständig, dass auf Erinnerung oder Antizipation und vor diesem Hintergrund auf Regulation zurückgegriffen werden kann, es weiß um vorangegangene Abläufe von Befriedigung oder Frustration. Hartmann (1956, S. 265) spricht vom Ich als einer »Organisation mit konstanter Besetzung«: Statt einem primärprozesshaften Ablauf kann hier auf Dauerspuren zurückgegriffen werden, es kann gleichsam daran »gedacht« werden, unter welchen Bedingungen Befriedigung möglich ist, ohne dass Unlust entsteht.
2.1.1 Die hemmende Funktion des Ichs
Im »Frühwerk«, also im Wesentlichen im zu jenem Zeitpunkt unveröffentlichten Entwurf einer Psychologie sowie in der Traumdeutung stehen Hemmung und Dissoziation bezüglich des Ichs im Zentrum. Freud entwirft hier ein Modell des Bewusstseins als »Sinnesorgan[.] zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten« (1900a, S. 620; Sperrung aufgeh., TS). Bewusstsein bedeutet die Wahrnehmung innerer oder äußerer Reize (vgl. zum Folgenden auch Storck & Billhardt, 2021). Freud unterscheidet ferner zwischen Wahrnehmungszellen (ohne Gedächtnis) und Erinnerungszellen (ohne Bewusstsein): Aktuelle Wahrnehmungen hinterlassen Erinnerungsspuren; werden diese erneut als Erinnerung innerlich »wahrgenommen«, dann wird etwas bewusst. Freuds Modell des Psychischen ist dem Reflexapparat nachgebildet (
Abb. 2.1), das bedeutet, dass im Ablauf zwischen Wahrnehmung und Motorik prinzipiell die innere Wahrnehmung von Erinnerungsspuren als Er-innerung im ganz eigentlichen Sinn eingeschaltet werden kann – vor dem Hintergrund vorangegangener Erfahrungen lustvoller oder unlustvoller Art. Dabei ist die Differenzierung zwischen zwei »Ablaufsarten der Erregung« (1900a, S. 614) bedeutsam. Während der Primärprozess sich darauf bezieht, dass Erregung unmittelbar in die Motorik überführt wird (also ein unmittelbares Streben nach Befriedigung), besteht im sekundärprozesshaften Denken die Möglichkeit, Abläufe zu hemmen oder umzulenken (unter Berücksichtigung des Realitätsprinzips, der Antizipation etc.). Diese hemmende Wirkung, in welcher der Sekundärprozess dann im Grunde einzig besteht, wird durch das Ich vollzogen: »Wenn ein Ich existiert, muss es psychische Primärvorgänge hemmen.« (Freud, 1950a, S.417)
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