Da sich die Bedürfnisse im Verlauf einer Erkrankung verändern, werden wir bei den einzelnen Wegstrecken im Verlauf der Erkrankung immer wieder auch auf phasenspezifische Bedürfnisse eingehen und sie mit den auftretenden Gefühlen in Beziehung setzen.
Wir werden ein Modell der vier emotionalen Grundbedürfnisse vorstellen: Bindung und Verbundenheit, Autonomie, Kompetenz und Orientierung ( Abschn. 5.3.1, S. 61f.) Sie dienen als Raster zur Suche nach Unerfülltem sowohl bei Patienten als auch ihren Behandlern. Zugleich regt die Bedürfnisbrille zum Perspektivenwechsel an, zur Umfokussierung von Problemen und Symptomen auf Wünschenswertes und Ressourcen. Gemeinsam kann immer wieder nach Möglichkeiten gesucht werden, auf eine Balance der Bedürfnisse zu achten und die Spielräume zu deren Erfüllung zu bemerken und auszuschöpfen.
Die Bedürfnisorientierung bezieht sich auch und insbesondere auf die Art und Weise, wie Betroffene über ihre Krank heit informiert und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden wollen. Diese Umsetzung wird anhand des SPIKES- und NURSE-Modells diskutiert ( Abschn. 5.5.1). Die Bedürfnisorientierung bezieht sich nicht nur auf die angestrebten Ziele der Behandlung, sondern auch auf deren Prozessqualität. Sie bezieht sich schlussendlich darauf, auch das Lebensende – so weit wie möglich – den Bedürfnissen der Patienten und ihrer Angehörigen entsprechend zu gestalten ( Abschn. 10.2, S. 334). In unserem Stufen- oder Pyramidenmodell bezeichnen wir das als die gemeinsame Erarbeitung und Einigung auf einen objektiv angemessenen und subjektiv möglichst befriedigenden Gesamtbehandlungsplan und dessen gemeinsame Modifikation je nach Krankheitsverlauf ( Abb. 2, S. 53).
4.3Therapeutisch wirksame Kommunikation ist beziehungsorientiert – Resonanz
Kommunikation und Beziehung bedingen einander. Die Art und Weise der Kommunikation gestaltet die Beziehung; zugleich wird die Art der Kommunikation durch das Beziehungsangebot und die Haltung der Beteiligten beeinflusst. Eine evidenzbasierte Medizin fokussiert auf möglichst wissenschaftlich fundierten, nachgewiesenermaßen wirksamen Interventionen bei definierten Krankheiten und »Störungen«. Dabei bleiben Arzt und Patient als Personen und ihre Beziehung im bereits erwähnten Dreieck zwischen Arzt, Patient und dessen Krankheit ( Kap. 3) zumindest konzeptuell unberücksichtigt. In unserem Plädoyer für eine resonanzbasierte Medizin wählen wir die aus Physik und Musik stammende Metapher der Resonanz für eine beziehungsorientierte Medizin: Ein Klangkörper schwingt in seiner Eigenfrequenz und bringt einen anderen zum Mitschwingen. Dessen Schwingung wirkt wieder auf den ursprünglichen Klangkörper zurück. Es entsteht Resonanz ( Abb. 1).

Abb. 1: Spontane Skizze zu interpersonaler Resonanz (MEH 1995) mit »inneren Harfen«, deren Saiten in Resonanz miteinander schwingen
Das Bild des Klangkörpers macht deutlich, dass ein resonanzbasiertes Vorgehen auch einer körperlichen und emotionalen Resonanzbereitschaft und Schwingungsfähigkeit des Behandlers bedarf, einer bewussten, verkörperten Präsenz und der Bereitschaft, sich für eine begrenzte Zeit auf professionelle Weise als ganze Person zum Wohl des Patienten zur Verfügung zu stellen. Es bedarf darüber hinaus auch der Fähigkeit der Behandler, sich selbst immer wieder zu zentrieren und auf die persönliche Eigenschwingung einzustimmen. Diese eigene Erdung, Zentrierung und Einstimmung auf sich selbst ist Ausgangspunkt und Endpunkt des Zyklus, der als Trias von Präsenz, Einstimmung auf den Patienten und Resonanz beschrieben wurde (Siegel 2012; siehe S. 105 u. 174). Im Bereich der Achtsamkeit finden sich einfache Übungen, diese Fähigkeiten zur Präsenz zu kultivieren.
Präsenz ist charakterisiert durch eine Haltung grundsätzlichen Wohlwollens dem Patienten gegenüber und dem Wunsch, dessen Leiden so weit wie möglich zu lindern. In diesem Sinne beschreiben wir sie als mitfühlende Präsenz. Indem die Behandler ihre Patienten als Mitmenschen betrachten, begegnen sie ihnen auf Augenhöhe. Indem sie sich ihrer eigenen Endlichkeit bewusst sind, ist ihnen auch klar, dass sie letzten Endes »im gleichen Boot« sitzen. Zugleich sind sie sich der Rolle gewahr, aus der heraus sie die Begegnung mit ihren Patienten gestalten. Der Begriff einer mitmenschlichen und mitfühlenden Professionalität beinhaltet dieses Rollenbewusstsein. Auch dazu zeigt die Achtsamkeitspraxis Wege auf, indem sie einen »Metaarzt« (S. 182) kultiviert. Der Metaarzt achtet darauf, diese Intentionen und die mit ihnen verknüpften höchst anspruchsvollen Übungsfelder nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu trägt auch eine Bewusstheit über jene Anteile seiner Gegenübertragung bei, die zwar in der Resonanz mit dem Patienten auftauchen, aber ihre Ursprünge in der eigenen Lebensgeschichte haben (S. 354 f.).
Gerade angesichts der existenziellen Bedrohung im Rahmen onkologischer Erkrankungen erscheint uns neben der Unterstützung der Patienten beim Kampf gegen die Krank heit und für all das, was das Leben lebenswert macht, die Rolle eines »Begleiters ein Stück des Weges« (Ebell 2008b) von entscheidender Bedeutung. Dessen Gegenwart führt Patienten aus Isolation und Entfremdung. Sie ermöglicht ihnen, aus Kampf- und-Flucht-Zuständen mit verständlichen Vermeidungszielen in Zustände größtmöglicher Sicherheit und Gelassenheit umzuschalten. Nur dann können realistische Hoffnungen auftauchen und angemessene Annäherungsziele angestrebt und erreicht werden. Denn nicht erst, wenn alles der Medizin Mögliche getan und alles Wichtige gesagt ist, wird die mitmenschliche Präsenz des begleitenden Arztes oder Therapeuten zu einer bedeutsamen Ressource für Gesundung und Heilung (Rousseau 2010; vgl. S. 171 ff.).
4.4Therapeutisch wirksame Kommunikation fördert den Perspektivenwechsel von Vermeidungszielen zu Annäherungszielen
Zentraler Bestandteil therapeutisch wirksamer Kommunikation ist ein Perspektivenwechsel. Wir verstehen darunter die Umorientierung des Patienten von Vermeidungszielen hin zu Annäherungszielen, eine Lenkung seiner Aufmerksamkeit von dem, was er nicht will, zu dem, was er anstrebt und ihm guttut. Die konkrete Umsetzung dieses Perspektivenwechsels durchzieht alle Anwendungen des Pyramidenmodells, er wird auf dessen zweiter Stufe näher erläutert ( Abschn. 5.6).
Zur Umorientierung des Patienten müssen auch die Behandler den Fokus ihrer Aufmerksamkeit entsprechend verändern. Dazu bedarf es entsprechender handlungsleitender Konzepte. Die vier für uns dabei hilfreichsten Modelle sind:
•die mit der Salutogenese verknüpfte Vorstellung eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums
•das »beidäugige Sehen«, das neben den Problemen auch Ressourcen in den Fokus nimmt
•Resilienz
•das Konzept des Aufblühens und des posttraumatischen Wachstums.
Perspektive der Salutogenese: Gesundheits-Krankheits-Kontinuum und Kohärenzsinn
Krebserkrankungen stellen eine dichotome Kategorisierung in gesund oder krank radikal infrage. Das Erleben der Betroffenen schwankt zwischen gesund und krank, und oft fühlen sie sich gleichzeitig irgendwie krank und gesund. Oder das subjektive Gefühl, gesund bzw. krank zu sein, und die »objektiven« Befunde der Krank heit klaffen in die eine oder andere Richtung weit auseinander.
Diesem Erleben kommt am ehesten die Beschreibung eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums nahe (Antonovsky 1997). Gemäß diesem Modell bewegen wir uns zeitlebens zwischen den Extrempolen gesund und krank hin und her. Die Medizin versucht, Patienten vom Krankheitspol zu entfernen, indem sie die Krank heit und ihre Symptome bekämpft. Dies kann aber ebenso geschehen, wenn sich Patienten auf ihr Gesundsein konzentrieren. Der in unserem Modell angestrebte Perspektivenwechsel sucht nach allem, was dazu beitragen kann, sich dem Gesundheitspol anzunähern – und seien es »nur einige Millimeter«.
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