Zwei Tage später schrieb Madame: »Ich habe den König gestern abend um elf Uhr gesehen, er ist so niedergeschlagen, daß es einen Felsen erweichen könnte; (»il est en proie à une telle affliction qu’elle attendrirait un rocher«) … er spricht mit jedermann mit einer gefaßten Traurigkeit und gibt seine Befehle mit großer Festigkeit, aber jeden Augenblick steigen die Tränen ihm in die Augen, und er erstickt sein Schluchzen. Ich habe einen tödlichen Schrecken, daß er selbst krank werde, denn er sieht sehr schlecht aus. Ich bedaure ihn mit ganzer Seele.« – Bei einer Sitzung des Staatsrates war das Gesicht des Monarchen tränenüberströmt, so dass auch die Minister alle zu weinen begannen.
Auch Personen, die sich früher über seine Frömmigkeit lustig gemacht hatten, waren tief beeindruckt von seiner Ergebenheit, seiner Unterwerfung unter den Willen Gottes. Ein großer Trost für den König war, dass der Beichtvater seines Sohnes ihm versicherte, dieser habe vor seinem christlichen Ende noch seine Ostern gehalten. Sobald der König sich über das Seelenheil seines Sohnes beruhigt hatte, führte er selbst so fromme Gespräche, dass sie vielen zu Herzen gingen.
Der Dauphin wurde schnell und fast heimlich in der königlichen Nekropole von Saint-Denis beigesetzt. Einerseits bestand große Ansteckungsgefahr. Andrerseits bemühte sich der König, seine Tränen in der Öffentlichkeit zu verbergen. Als Familienvater und sehr empfindlicher Mensch war er zutiefst von diesem Verlust betroffen. Er durfte seiner persönlichen Trauer indes keinen zu starken Ausdruck verleihen, sonst hätte man ihm vorgeworfen, die zahllosen Schwierigkeiten und Unglücksfälle seines Königreichs zu vergessen.
Manche Historiker glauben, dass Frankreich mit diesem sehr humanen und beliebten Dauphin seinen vielleicht besten König verloren habe, trotz der abfälligen Urteile, die Saint-Simon in seinen »Memoires« über ihn gefällt hat.
»Gott straft mich, ich habe es wohlverdient«
Zu Beginn des nächsten Jahres wurde der nächste Thronanwärter, der älteste Sohn des Grand Dauphin, der Duc de Bourgogne, zusammen mit seiner Gattin Marie-Adelaïde, der Dauphine, von einer geheimnisvollen und jähen Krankheit, – man vermutet, dass es die Masern waren –, dahingerafft. Die Dauphine starb als Erste, am 12. Februar. Ludwig XIV. schrieb über diesen Verlust an seinen Enkel, den spanischen König Philipp V, am 16. Februar 1712:
»Ich habe meine Tochter, die Dauphine, verloren, und obschon Sie wissen, wie sehr sie mir immer lieb gewesen ist, können Sie sich den Schmerz nicht richtig vorstellen, den ihr Verlust mir verursacht …« (»J’ai perdu ma fille, la Dauphine, et quoique vous saviez à quel point elle m’a toujours été chère, vous ne pouvez encore vous représenter assez la douleur que sa perte me cause.«) Die Dauphine, eine Prinzessin von Savoyen, war noch keine 26 Jahre alt. Ihr jugendfrischer Charakter hatte die allzu ernste Atmosphäre des Hofes stark gelockert, zur großen Freude des Königs. Sogar Madame de Maintenon musste zugeben, nicht ohne Neid, dass die junge Frau von jedermann geliebt wurde. (»Elle se fait aimer de tout le monde.«)
Ludwig XIV. umgeben von den drei Thronfolgern
Einige Tage später, am 18. Februar, folgte der Dauphin seiner Gattin in den Tod. Über diese neue Hiobsbotschaft schrieb der Monarch: »Sie werden die Mehrung meines Schmerzes verstehen, wenn Sie den Tod des Dauphins erfahren. Das sind in wenig Tagen zwei schreckliche Prüfungen, die Gott über mich verhängt hat, um mich seinen Befehlen zu unterwerfen.« (»Ce sont en peu de jours deux terribles épreuves que Dieu a voulu faire de ma soumission à ses ordres.«) Lieselotte von der Pfalz schrieb an ihre Tochter, dass die Ärzte die arme Prinzessin auf dem Gewissen hätten.
Der zweite Dauphin war von Fénelon erzogen worden, der danach getrachtet hatte, aus ihm einen modernen Telemachos zu machen. Auch er hatte hohe Hoffnungen geweckt, vor allem in der gebildeten Klasse. Ein Satz, den er im Salon von Marly ausgesprochen hatte, hatte für beträchtliches Aufsehen gesorgt: »Die Könige sind für die Völker da, nicht die Völker für die Könige.« Der Abstand zum berühmten Ausspruch des absolutistischen Sonnenkönigs »L’ État, c’est moi!« war gewaltig. Der Akademiker Dangeau schrieb über diesen Verlust: »Mit ihm ist der weiseste und frömmste Fürst gestorben, den es vielleicht auf Erden gegeben hat.« Der Maréchal de Tessé schrieb, die Hand Gottes sei schwer über Frankreich niedergefallen, indem sie dem Land einen Fürsten von so hohen Tugenden geraubt habe.
Kurze Zeit später, am 8. März 1712, starb der älteste Sohn des zweiten Dauphins, der Urenkel des Königs und dritte Thronanwärter, der Duc de Bretagne, im Alter von 5 Jahren. Er war nur 19 Tage lang Dauphin gewesen.
Dem Marschall Villars gegenüber äußerte sich der König über seine Verluste: »Es gibt wenig Beispiele dessen, was mir zustößt, daß man in derselben Woche (sic) seinen Enkel, seine Schwiegertochter und deren Sohn verliert, in die alle ich hohe Hoffnungen gesetzt hatte und die ich zärtlich liebte. Gott straft mich, ich habe es wohlverdient; ich werde darum weniger im Jenseits leiden …« (»Il y a peu d’exemples de ce qui m’arrive, et que l’on perde dans la même semaine son petit-fils, sa belle-fille et leur fils, tous de très grande espérance et tendrement aimés. Dieu me punit, je l’ai bien mérité; j’en souffrirai moins dans l’autre monde …«).
Die Pfalzgräfin notierte: »Man spricht ›im Allerheyligsten‹ weder vom Krieg noch vom Frieden. Man spricht ebenfalls nicht von den drei Dauphins und der Dauphine aus Angst, den König ins Grübeln zu bringen … Sobald er dieses Kapitel berührt, spreche ich sofort von andern Dingen, und ich tue, als ob ich nichts vernommen hätte.« (24.3.1712)
Die wiederholten Todesfälle in der königlichen Familie riefen Angst und Bestürzung auch beim französischen Volk hervor. Die einen erblickten darin einen »Fluch«, den Zorn Gottes gegen den König und gegen die Zustände am Hofe, andere erwogen die Hypothese von Giftmorden. Vor allem Philippe von Orleans, der zukünftige Regent, den jeder Sterbefall näher an den Thron rückte, wurde von manchen verdächtigt, die Hand im Spiel zu haben. Aber der König nahm kaum Notiz von diesen bösen Gerüchten.
Die heutige Geschichtsschreibung glaubt, für die mysteriöse Serie von Todesfällen eine plausible Erklärung gefunden zu haben: Die Ignoranz der Leibärzte Fagon und Boudin. Die königlichen Patienten sind das Opfer ihrer Ärzte geworden, die bei hohem Fieber zu einem probaten Allheilmittel griffen: zum Aderlass. Dadurch verhinderten sie, dass die Krankheit ausbrach und normal bis zur Heilung verlief – aber sie sprachen damit ein Todesurteil über die Kranken aus. Dieser Verdacht wurde schon damals geäußert, aber die Leibärzte, in die Enge getrieben, behaupteten, die Autopsie habe den Beweis einer Vergiftung erbracht. Molières Farcen über die Scharlatanerie und Wichtigtuerei der Ärzte, vor allem in seinem »Malade imaginaire« (1672) mit den standardisierten Prüfungsantworten von »seignare und purgare«, haben durch die Ereignisse des Jahres 1712 eine tragische Aktualität gewonnen, fünfzig Jahre nach der Aufführung des »Eingebildeten Kranken«, die Molière selbst das Leben kostete.
Ab März 1712 hing die ganze Zukunft der Dynastie von dem vierten Dauphin, Louis duc d’Anjou, ab, der am 15. Februar 1710 geboren worden war. Auch er wurde von den Röteln befallen, genas aber paradoxerweise, – oder ganz natürlich – weil seine Gouvernante, die Herzogin von Ventadour, das Krankenzimmer absperrte und die Ärzte nicht zu ihm ließ. (»S’est opposée catégoriquement aux médecins«.) Die Krankheit nahm einen normalen Verlauf, und das Kind blieb am Leben, zur großen Schande der Ärzte. (»Cet enfant a été sauvé à la honte des médecins«, wie Lieselotte schrieb.) Nach der Régence wurde dieser vierte Dauphin im Jahre 1725 in der Kathedrale von Reims als Ludwig XV. gesalbt und gekrönt.
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