Barbara Beuys
Europas größte Komponistin
Eine Spurensuche
© Dittrich Verlag ist ein Imprint
der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2021
Printed in Germany
ISBN 978-3-947373-69-7
eISBN 978-3-947373-75-8
Satz: Gaja Busch, Berlin
Covergestaltung: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen, unter Verwendung einer Abbildung der ÖNB Wien: PORT_00012656_01
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Kapitel 1
Nach kurzem Unterrichte componirte ich Variationen, Tänze, kleine Rondos 1812–1820
Kapitel 2
Das Männliche wohnt im Reich der Freyheit, das Weibliche ist an die Erden gebunden Die Aufklärung legt den Grundstein der Ungleichheit
Kapitel 3
Gebet Euren Töchtern eine männliche Erziehung.
Der Vater will Emilies Persönlichkeit nicht brechen 1820–1831
Kapitel 4
Friedland war nicht der Ort, um in der Tonwissenschaft sich zu vervollkommnen 1831–1840
Kapitel 5
Die Weiber, im Ganzen genommen, lieben keine einzige Kunst, haben durchaus kein Genie Fanny Mendelssohn und Clara Wieck vertrauen ihren Tagebüchern – Emilie Mayer bleibt ledig
Kapitel 6
In Stettin: Unter Loewes Leitung komponierte sie Lieder, Sonaten, Streichquartette, Sinfonien 1840–1847
Kapitel 7
Louise Farrenc – Vorbild französischer Musikkultur: Komponistin, Professorin, Ehefrau, Mutter Emilie Mayer kreiert nebenher Plastiken aus Weißbrot
Kapitel 8
Mit List in die Männerwelt: Frisch gewagt, ist halb gewonnen. Letzter Schliff bei Professor Marx 1847–1848
Kapitel 9
Mitten in der Revolution in Berlin.
Im Juli 1848: Zurück nach Stettin 1848–1850
Kapitel 10
Umzug nach Berlin. Das erste eigene Konzert: Ein »unicum in der musikalischen Weltgeschichte« 1850–1851
Kapitel 11
Die Würfel sind gefallen: König und Königin beehren ein Konzert mit ihrer Gegenwart 1851–1855
Kapitel 12
In Wien am Kaiserhof empfangen.
Ehrendiplom in München. Ein Frauennetzwerk für die Hausmusik 1855–1859
Kapitel 13
Ihre Briefe an den Musikverlag: Höflich und selbstbewusst 1860–1862
Kapitel 14
Clarissa von Ranke: Ein Sonett auf Emilie Mayer »Liebend und geliebt lebt sie ihr Leben«
Kapitel 15
Umzug nach Stettin.
Ein vergiftetes Lob: Die große Ausnahme 1862–1867
Kapitel 16
Nicht unerhebliche Opposition in den männlichen und den weiblichen Gesellschaften 1868–1875
Kapitel 17
Zurück nach Berlin. Eine Story über die Komponistin mit human touch 1875–1880
Kapitel 18
Noch einmal großes Orchester: Emilie Mayers Faust-Ouvertüre erobert die Konzertsäle 1881–1883
Epilog
Erst im 21. Jahrhundert wird Emilie Mayer langsam wiederentdeckt
Quellen und Literaturhinweise, Dank
Abbildungsnachweise
Personenregister
Kapitel 1
Nach kurzem Unterrichte componirte ich Variationen, Tänze, kleine Rondos
1812–1820
Am Rathaus von Friedland im Herzogtum Mecklenburg-Strelitz kam niemand vorbei. Nachdem 1703 wieder einmal ein verheerender Brand in dem schmucken mittelalterlichen Städtchen ausgebrochen war und neben vielen Häusern auch das Rathaus in Schutt und Asche verwandelt hatte, prägte seit 1803 ein Neubau mit breitem Walmdach und spitzem Turm den Markt von Friedland, in dessen Mauern knapp viertausend Menschen lebten. Und niemand, der über den Markt ging und das Rathaus im Blick hatte, konnte die Ratsapotheke übersehen, die seit 1658 linker Hand fast Wand an Wand an das kommunale Zentrum anschloss. Wer hier einzog, hatte das Apothekenmonopol für die Stadt und musste keine Konkurrenz fürchten.
Am 14. Mai 1812 wurde in der Ratsapotheke von Friedland ein Mädchen geboren und wenige Tage darauf in der nahen Marienkirche, einem mächtigen gotischen Backsteinbau, der wuchtige graue Taufstein aus dem 14. Jahrhundert steht heute noch rechts vom Altar, auf den Namen Emilie Louise Friederika getauft – mitten hinein in eine turbulente, von Not, Hass und Krieg geprägte Zeit.
Die persönliche Geschichte der Familie des Ratsapothekers Johann August Friedrich Mayer ist typisch für eine Zeit, in der die Lebenserwartung in Ost- und Westpreußen im Durchschnitt bei 24,7 Jahren lag, in der Rheinprovinz bei immerhin 29,8. Noch im Jahr seiner ersten Heirat wurde 1804 der Sohn Friedrich August geboren. Im November 1805 kam eine Tochter zur Welt; sie starb im April 1806. Im September verlor der zweijährige Sohn seine Mutter, der Ratsapotheker seine Frau. Im Frühjahr 1809 heiratete der zweiunddreißigjährige Johann August Friedrich Mayer zum zweiten Mal, die neunzehnjährige Henrietta Carolina Louisa. Ihr erstes Kind, Carl Friedrich Eduard, wurde im März 1811 geboren; Emilie – wie sie sich später nannte – war 1812 das zweite. Im Jahresrhythmus folgten Alexander Friedrich Wilhelm und am 21. August 1814 Henriette Caroline Louise. Nur vier Tage nach der Geburt stirbt die Mutter der vier Kinder. Der Vater muss zum zweiten Mal dem Sarg seiner Frau zum Friedhof vor dem Anklamer Tor folgen, das die Stadtmauer nach Osten abschließt.
Der Ratsapotheker wird sofort eine Frau als mütterlichen Ersatz für die vier kleinen Kinder aus der zweiten Ehe ins Haus geholt haben. Emilie ist zwei Jahre und drei Monate alt, als ihre Mutter stirbt; der jüngere Bruder knapp anderthalb, die Schwester ein Baby von fünf Tagen und der Halbbruder aus erster Ehe neun Jahre alt. Der Vater wird nicht wieder heiraten. Schließt man aus den engen Beziehungen, die die erwachsenen Geschwister lebenslang miteinander teilten, auf Emilies Kindheit, dann haben die schmerzlichen Verluste alle Geschwister emotional fest verbunden.
Es war nicht so, dass der frühe Tod nur Bürger und Bauern heimsuchte. Auch an den Hochgeborenen von Adel, die auf den Thronen saßen, mit Macht und Reichtum gesegnet, ging er nicht vorbei. Vier Jahre zuvor war 1810 Luise von Preußen gestorben, vierunddreißig Jahre alt, schon zu Lebzeiten vom Romantiker August Wilhelm Schlegel als »Königin der Herzen« gepriesen. Den Friedländern stand sie besonders nahe, denn die geborene Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz war eine Tochter ihres Landesvaters. Zehn Kinder verloren ihre Mutter, der königliche Gemahl versank in tiefe Depressionen.
Doch dem Preußenkönig blieb keine Zeit zum Trauern. Napoleon, der nach blutigen Schlachten 1805 in Wien und 1806 in Berlin als Sieger eingezogen war, beherrschte Europas Politik. Im Februar 1812 musste Preußen der französischen Armee das Durchmarschrecht nach Osten zugestehen, dazu Verpflegung, Munition und 12.000 Soldaten, weil Napoleon endlich das Reich des russischen Zaren erobern wollte. Emilie Mayer war wenige Tage alt, als der Kaiser Frankreichs Ende Mai an der Spitze einer riesigen Armee Richtung Moskau zog.
Im Juni 1812 erreichten rund 300.000 Soldaten Napoleons Ostpreußen; auch die Ackerbürgerstadt Friedland blieb von der daraus folgenden Katastrophe nicht verschont. Viele Bürger hielten Tiere innerhalb der Stadt und besaßen Ackerland vor den Toren. Die französischen Generäle forderten für ihre Soldaten gnadenlos ein, was ihnen nach dem Vertrag zustand: eine umfassende Verpflegung. Bald brach die Versorgung der einheimischen Bevölkerung zusammen. Auf den Landstraßen lagen tote Pferde; was vom Viehbestand noch am Leben war, versteckten die Bauern in den Wäldern. Die feindlichen Soldaten plünderten auf eigene Faust; auch Apotheken blieben nicht verschont. Als die Soldaten Napoleons weiter nach Osten zogen, ließen sie eine verbitterte, von Hass erfüllte Bevölkerung zurück.
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