1877 war sie seit fünf Jahren Witwe; vielleicht hat sie Emilie Mayer, die seit 1875 wieder in Berlin lebte, im Rahmen von Konzerten oder Geselligkeiten kennengelernt. Ihre faktenreiche »Biographische Skizze«, von einer anschaulichen Charakteristik der Persönlichkeit Emilie Mayers geprägt – über die zu gegebener Zeit noch mehr zu berichten sein wird –, ist ohne ein Treffen der beiden Frauen nicht denkbar. Auch was sie über die Bedeutung der Musik in Emilie Mayers Kindheit und die entscheidende Rolle des Klavierlehrers Driver schreibt, kann Elisabeth Sangalli-Marr nirgendwo abgeschrieben, sondern nur von der Komponistin selbst erfahren haben.
Die Begabung von Emilie für Musik fiel demnach früh in der Familie auf, weil schon die Vierjährige »ihre augenblickliche Stimmung meistens singend zu erkennen geben wusste«. Wenn Soldaten mit Musik durch die Stadt und dann über den Markt vorbei an der Ratsapotheke zogen, konnte sie »die Grundmelodie dieser Musikanten immer richtig nachsummen«. Der Vater brauchte nicht lange nachzudenken, welche seiner zwei Töchter besonders geeignet war, das bürgerlich-musikalische Element in der Familie zu repräsentieren.
Und Emilie sah im Klavierunterricht keine pädagogische Zwangsmaßnahme. Schon nach wenigen Lektionen ermutigte der Organist Carl Driver seine Schülerin in Mecklenburgischem Platt: »Wenn du die Meu gifst, kann ut di wat warden.« Die Fünfjährige nahm ihn beim Wort und spielte bald während der Lektionen außer den Noten, die auf dem Papier standen, ungefragt ihre eigenen unsichtbaren. Das erboste den Lehrer, wie Elisabeth Sangalli-Marr erzählt, und er kommentierte: »… kannst Du et beter maken, sallt mir recht sin.« Nicht ahnend, dass Emilie ihn wiederum beim Wort nahm, und ungefähr ein Jahr darauf ihren Klavierlehrer überraschte: »Driver, ich habe einen Walzer gemacht.« Die Tochter des Ratsapothekers sprach natürlich nicht Plattdeutsch.
Der Lehrer, in Elisabeth Sangalli-Marrs Skizze als »einfach, aber gediegen« beschrieben, reagiert weder skeptisch noch herablassend, sondern rundum positiv. Schmunzelnd fordert er Emilie auf: »Spöl mal.« Nachdem sie ihm ihre Walzer aus dem Kopf vorgespielt hat, bekommt sie einen musikalischen Ritterschlag: »Geföllt mie, gief mie maol Papier, ick wil’n upschrieben.« Das Lob bringt das musikalische Talent in Fahrt. Schon in der nächsten Unterrichtsstunde präsentiert Emilie selbstbewusst neue Kompositionen.
Weiter angespornt vom Lehrer Driver, aber auch von Familie und Freundinnen, »die über das Musik-Genie des liebenswürdigen, stets heiteren und naiven Mädchens entzückt waren, wuchs die Zahl ihrer Compositionen zu einer beträchtlichen Höhe heran«. So hat es Elisabeth Sangalli-Marr Jahrzehnte später von Emilie Mayer erfahren. Die Begeisterung ist ansteckend, die Vorstellung realistisch: Emilie, inzwischen sieben, acht, neun Jahre alt, sitzt am Klavier, umgeben von ihren Geschwistern, vom Vater und Lehrer Driver, von Freundinnen und Bekannten der Familie und lässt ihrem musikalischen Talent freien Lauf.
Ein solches Talent zu ermutigen scheint selbstverständlich. Tatsächlich ist die wohlwollende Atmosphäre in der Ratsapotheke von Friedland, die positive Reaktion des Organisten Driver und ebenso die offensichtliche Zustimmung ihres Vaters für damalige Verhältnisse eine ganz große Ausnahme und steht quer zum Zeitgeist. Das Selbstbewusstsein eines jungen Mädchens und seine besonderen Fähigkeiten fördern? Undenkbar, geradezu geächtet. Geht es nach den fest gefügten gesellschaftlichen Normen und dem, was das erstrebenswerte Lebensziel einer Frau sein kann, die 1812 geboren wird, sollte die kleine Emilie sich in Bescheidenheit üben und nicht mit allseits bewunderten Auftritten glänzen.
Kapitel 2
Das Männliche wohnt im Reich der Freyheit, das Weibliche ist an die Erden gebunden
Die Aufklärung legt den Grundstein der Ungleichheit
Es war in diesen Jahren, als der Berliner Bankier Abraham Mendelssohn, am 16. Juli 1820, einen Brief an seine fünfzehnjährige Tochter Fanny schrieb und einen Vergleich mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Felix zog: »Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll; ihm ist Ehrgeiz, Begierde sich geltend zu machen … nachzusehen.« Es ehre Fanny, dass sie sich an dem Beifall freue, den der Bruder sich erworben hat. Dann folgt ein warnender Nachtrag an die Tochter: »Beharre in dieser Gesinnung und in diesem Betragen, sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert die Frauen.«
Zu verstehen ist diese eindringliche väterliche Ermahnung vor dem Hintergrund, dass Fanny und Felix Mendelssohn bis dahin eine gemeinsame musikalische Erziehung erhielten: exzellenten Klavierunterricht, für einige Zeit bei einer renommierten französischen Klavierlehrerin in Paris, dazu Unterricht in Komposition. Beide legten Alben an, in die sie ihre Kompositionen eintrugen. Fanny komponierte Lieder, Chöre, Klavierstücke. Die Geschwister waren miteinander sehr vertraut, tauschten ihre musikalischen Ideen auf gleichem Begabungsniveau miteinander aus. Das war der Zeitpunkt, als der Vater glaubte, eine eindeutige Trennung zwischen den Teenagern markieren zu müssen.
Beides war selbstverständlich: dass die musikalische Ausbildung des gerade einmal elf Jahre alten Felix nahtlos in einen Beruf als Musiker und Komponist übergehen würde und sein offensichtlicher Ehrgeiz deshalb gerechtfertigt war: ebenso sollte die vier Jahre ältere Schwester ihr sichtbares musikalisches Talent zurücknehmen, weil es im Leben einer Frau und der Definition von Weiblichkeit keinen Raum für beruflichen Ehrgeiz außerhalb des privaten Bereiches geben konnte. Sie hatte nur einen Beruf: Frau und Mutter zu sein.
Ein Jahr später, 1821, als die Familie von der Jägerstraße in das prächtige Palais in der Leipziger Straße 3 zog, endete die gemeinsame musikalische Ausbildung und das Zusammenleben der Geschwister in Berlin. Felix machte mit einem Lehrer die traditionelle Grand Tour junger Männer, um sich passende Kommunikationsformen und ein gewandtes Auftreten in der Öffentlichkeit für seine zukünftige Berufslaufbahn anzueignen. Leipzig, mit dem Gewandhausorchester Deutschlands Musikmetropole, Weimar, wo Goethe von dem klavierspielenden Wunderkind schwärmte, Paris, Süddeutschland, England waren die Stationen. Fanny, die von einer ähnlichen Bildungsreise nicht einmal träumen konnte, wurde zuhause durch Briefe von Felix Zuhause auf dem Laufenden gehalten.
Dass im Hause Mendelssohn – ab 1822 nannte man sich auf Initiative von Vater Abraham mit staatlicher Genehmigung Mendelssohn Bartholdy – die Lebenslinien von Schwester und Bruder bei gleicher Begabung in Bezug auf Ausbildung, berufliche und private Ziele radikal auseinander liefen, entsprach der Normalität im Verhältnis von Frauen und Männern. Friedrich Schlegel, Philosoph und Schriftsteller, dem Männerbund um Schiller und Goethe, dem Philosophen Fichte, dem Theologen Schleiermacher und romantischen Dichtern am Übergang zum 19. Jahrhundert verbunden, hat die herrschende Geschlechterdefinition plastisch auf den Punkt gebracht: »Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.« Damit war für Fanny Mendelssohn und alle Frauen, die im 19. Jahrhundert ihr musikalisches Talent zum Beruf machen wollten, ein Berufsverbot ausgesprochen.
Was die Zeitgenossen den Frauen als ewiges und natürliches Gesetz predigten, wurzelte in einer Ideologie, gerade einmal fünf Jahrzehnte alt. Doch sie prägt das Verhältnis der Geschlechter bis ins 21. Jahrhundert. Und hat zu Emilie Mayers Zeiten auch die Entwicklung der Musik und das Leben der Frauen, die sich zu dieser Kunst berufen fühlten, zutiefst beeinflusst. Ohne die Anfänge dieser Entwicklung aufzudecken, ist das, was die Komponistin Emilie Mayer aus ihrem Leben machte und erreichte, nicht im Ansatz nachvollziehbar.
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