Es traf sich bestens, dass in Stettin seit gut fünfzehn Jahren Carl Loewe, der als Komponist und Sänger einen internationalen Ruf hatte, erfolgreich als städtischer Musikdirektor wirkte. Durch ihre familiären Beziehungen zu erfahren, dass Loewe Schülerinnen im Fach »Komposition« unterrichtete, wird Emilie Mayer nicht schwer gefallen sein. Die Entschiedenheit, mit der sie als Achtundfünfzigjährige rückblickend diesen Entschluss und die radikale Wende in ihrem Leben beschreibt, lässt zwei Schlüsse zu: Für die achtundzwanzigjährige Emilie Mayer hat die Musik und der kreative Umgang mit den Tönen nichts an Bedeutung verloren, im Gegenteil. Sie hat sich in den langen Jahren in Friedland gedanklich darauf vorbereitet, einen günstigen Augenblick zu nutzen, um ihr Lebensziel zu realisieren – Komponistin zu werden. Wusste sie, worauf sie sich als Frau mit dieser Entscheidung eingelassen hatte?
Es ist an der Zeit, zu erfahren, welcher gewaltige Umbruch im Reich der Musik parallel zum polarisierten Verhältnis von Mann und Frau stattgefunden hat, und wie sehr die neue radikal ungleiche Stellung der Geschlechter sich auf die Arbeit und das Leben von Frauen auswirkte, die für diesen künstlerischen Bereich Talente und Fähigkeiten besaßen.
Kapitel 5
Die Weiber, im Ganzen genommen, lieben keine einzige Kunst, haben durchaus kein Genie
Fanny Mendelssohn und Clara Wieck vertrauen ihren Tagebüchern – Emilie Mayer bleibt ledig
Im November 1828 schrieb Abraham Mendelssohn seiner Tochter Fanny zum 23. Geburtstag: »Du musst Dich mehr zusammennehmen … Du musst Dich ernster und emsiger zu Deinem eigentlichen Beruf, zum einzigen Beruf eines Mädchens, zur Hausfrau, bilden …« Seine Geburtstagsmahnung acht Jahre zuvor, die in die gleiche Richtung ging, hatte aus seiner Sicht wenig Wirkung gezeigt. Tatsächlich ging Fanny weiter ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: sie komponierte – Lieder, Duette und Stücke für Klavier. Allerdings legte Fanny alle ihre Kompositionen in die Schublade – im Gegensatz zu ihrem jüngeren Bruder Felix, dessen Kompositionen öffentlich gespielt und gedruckt wurden – op.1, op. 2 und so weiter –, so dass die Öffentlichkeit bewundernd erfuhr, wie produktiv dieses junge Genie war.
Dass sich nicht nur ihre Werke anhäuften, sondern auch heftige Gefühle in ihrem Innern, offenbart ihr Brief vom 22. März 1829 an den Diplomaten Karl Klingemann in London, ein guter Freund aus Berliner Zeiten: »Dass man übrigens seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekommt, ist ein Punkt, der einen in Wuth und somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch das Übel ärger würde.« Auf die Weiblichkeit hatte ihr Vater als Begründung hingewiesen, als er in seinem ersten Brief klar machte, dass die Musik niemals – wie bei ihrem Bruder – Fannys Beruf sein könne. Als sie am 3. Oktober 1828 den Maler Wilhelm Hensel heiratete, schickte der abwesende Felix das versprochene Orgelpräludium nicht, also komponierte die Schwester es selber. 1831 schuf Fanny Hensel eine »Musik für die Toten der Cholera-Epidemie«. Wie immer geht das Original in die Schublade und eine Kopie an den Bruder; noch ist sie mit ihrer Kreativität von seinem Urteil abhängig. Der schreibt zurück, er habe überall in der Musik nach dem »Frauenzimmerpferdefuß« geschaut, ihn aber nicht gefunden, so gut sei die Musik. Ein vergiftetes Lob.
Fanny Hensel, geb. Mendelssohn, hinterließ bei ihrem Tod 1847 rund 400 Werke. Ihr berühmter Bruder Felix schätzte ihre Kompositionen, aber war gegen eine Veröffentlichung. Fanny sollte vor allem Frau und Mutter sein.
Fanny Hensel, geborene Mendelssohn, hatte als Kind wie ihr Bruder Klavierunterricht bekommen und beherrschte das Piano souverän. Felix spielte außerdem Geige, nichts Besonderes für einen jungen Musiker. Und wenn Fanny dieses Instrument auch gerne gespielt hätte? Auf ihrem berühmten Genter Altar wiesen um das Jahr 1430 die Brüder Jan und Hubertus van Eyck musizierenden Engeln eine dominierende Rolle zu. Die prächtigen Flügel am Rücken eng angelegt, spielen die himmlischen Wesen ebenso Harmonium wie Geige. Für die irdischen Zuschauer – ob Frauen oder Männer – war das über Jahrhunderte eine Selbstverständlichkeit. 1783 sorgte der Pädagoge, Komponist und Pfarrer Karl Ludwig Junker mit seinem Buch »Vom Kostüm des Frauenzimmer Spielens« dafür, dass mit dem aufgeklärten Jahrhundert für Frauen in der Musik andere Töne aufgezogen wurde.
Ausgangspunkt seiner Epistel war der Grundsatz der Ungleichheit von Männern und Frauen in der Musik, angefangen bei den Instrumenten: »Es giebt Instrumente, die mehr, andere – die weniger sich fürs Frauenzimmer schicken.« Zu denen, die sich nicht schickten, gehörte die Geige: »Wenn wir ein Frauenzimmer die Violin, das Horn, oder den Baß, spielen sehen, so empfinden wir ein gewisses Gefühl des Unschicklichen …« Wir – das sind die Herren der Schöpfung, die Fanny Hensel so in Rage versetzten und selbstverständlich ihre körperliche Stärke auch im Bereich der Instrumente ausspielten. Die Saiteninstrumente, so der Pfarrer Junker, erfordern »oft eine schnelle, heftige, gewaltsame Bewegung« und die stehe mit der »anerkannten Schwäche des zweyten Geschlechts gar in keiner Verbindung«. Und weil der »Stand des Weibes Ruhe« ist, kommt für sie nur das Klavier infrage, vielleicht noch Laute, Zither und Harfe.
Aber nun redet sich der Pfarrer doch noch in Rage, weil die Vorstellung einer Frau am Cello seine Fantasie an- und aufregt. Die »Stellung und Lage des Körpers« bei diesem Instrument vertrage sich nicht »mit dem Begriff des sittlichen Anstandes«, weil sie »in der Seele gewisse Bilder und Nebenideen« erweckt. Junker beschreibt bis ins Detail ein Frauenzimmer, das Cello spielt: »Sie kann hiebey zwey Übelstände nicht vermeiden. Das Überhangen des Oberleibs und also das Pressen der Brust; und denn eine solche Lage der Füße, die für tausende Bilder erwecken, die sie nicht erwecken sollten; …«
Der Gottesmann kennt sich aus in der Seele des starken Geschlechts, wo sexuelle Fantasien bei Tausenden ausgelöst werden, wenn allein die weiblichen Füße – zum größten Teil von einem wallenden Kleid bedeckt, das natürlich über die Knöchel geht – neben dem Cello sichtbar werden. Dass eine Frau die Beine spreizt, um das große Instrument in den Griff zu bekommen, ist ein Tabu, dass der Fantasie des Lesers stillschweigend überlassen wird. Ein langlebiges Tabu: Noch im 21. Jahrhundert sitzen Männer breitbeinig in Straßenbahnen und Talkshows, während Frauen ihre Beine sittsam zusammenpressen.
Der neue Blick auf die Instrumente, wenn es um die Geschlechterfrage geht, ist der Einstieg in eine Musik, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine revolutionäre Umdeutung erfährt. Bis dahin waren Töne für den Kenner, egal ob männlich oder weiblich, ein Mittel, fantasiereich etwas nachzuahmen – Blitz und Donner, die Vier Jahreszeiten und ebenso Gefühle. Nun wird die Vorstellung darüber, was Musik bedeutet, auf den Kopf gestellt: Musik ist nicht mehr Nachahmung, sondern der individuelle Ausdruck des Menschen, der die Töne zum Klingen bringt. Sie erzählt von den persönlichen Empfindungen eines Menschen, der sich mit seinem innersten Wesen in der Musik ausdrückt. Damit ist die Grundlage für eine unterschiedlich bewertete Musikkultur zementiert, die – wie der Mensch an sich – in männlich und weiblich aufgeteilt wird.
Ein zentraler Baustein jeder Komposition wird mit den Tonarten Dur und Moll gelegt, bis heute »Tongeschlechter« genannt. Mitte des 18. Jahrhunderts erklärt eine Anleitung zum Komponieren, Moll sei von Dur so abhängig wie Eva von Adam in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Es folgt der Vorschlag, Dur – das mit »frisch und freudig« assoziiert wird – als modus masculinus und Moll, das für »gelassen und so zu reden weiblich« stehe, als modus femininum zu bezeichnen.
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