Sie lehnte sich ans Treppengeländer und wirkte ein klein wenig erleichtert. Und fasziniert. »Das ist merkwürdig. Nicht einmal das Hausmädchen?«
»Erst nach einer Ewigkeit . Und dann hat sie nur den Kopf zur Tür herausgestreckt, überprüft, ob sie verschlossen ist, und die Vorhänge zugezogen. Sie wirkte nervös.« In meinen Notizen hatte ich den Begriff verstohlen verwendet, doch Miss Judson warf mir hin und wieder vor, zu Übertreibungen zu neigen.
»Und da hast du dann die Polizei verständigt?«
Ich scharrte verlegen mit dem Fuß im Teppich. »Nicht direkt. Ich dachte, es könnten alle krank sein – Sie erinnern sich an die Arsenvergiftung von Holyrood im letzten Jahr –, daher ging ich hinüber, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Oh, großer Gott!«
»Das Hausmädchen hatte damals sechs Menschen ermordet.«
Miss Judson hockte sich neben mich auf die Stufe. »Myrtle. Das geht nun wirklich zu weit. Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, die kleine Trudy – oder sonst jemand auf Redgraves – könnte etwas so …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… Unglaubliches getan haben.«
»Nein.« Obwohl Giftmord durch Arsen in letzter Zeit in Mode gekommen war. »Doch irgend etwas stimmte dort drüben nicht. Ich klopfte und klopfte, erhielt aber keine Antwort. Mr Hamm war auch nicht zu Hause.«
Miss Judson schürzte die Lippen und blickte an meinem Kopf vorbei ins Leere. Ich merkte ihr an, dass sie mögliche Reaktionen abwog. »Und dir kam nicht in den Sinn, es einfach jemandem zu sagen?«, fragte sie schließlich etwas schwach.
Sie wusste noch genauso gut wie ich, was die letzten Male geschehen war, wenn ich Erwachsenen von meinen Bedenken berichtet hatte, daher machte ich mir nicht einmal die Mühe, ihr zu antworten.
»Na schön.« Entschlossen stand sie auf. »Gehen wir. Sicher ist dein Vater bald auf den Beinen und es wäre wohl besser, wenn wir rechtzeitig zum Frühstück wieder im Haus sind, damit er mich auf direktem Weg zurück nach Französisch- Guayana schicken kann.«
Das Redgraves-Anwesen lag direkt nebenan, trotzdem mussten wir unseren Rasen und den kleinen Weg überqueren, um dahinter die Straße entlang bis zum Vordereingang des gewaltigen Hauses zu laufen, wo die Polizeikutsche parkte. Der Wachtmeister am Wagen, den ich nicht kannte, nahm zum Gruß den Helm vom Kopf, während er sein Pferd am Hals tätschelte. Davon abgesehen war es auf Redgraves gespenstisch still.
»Wo ist die Katze?«, zischte ich, doch Miss Judson brachte mich mit einem Psst zum Schweigen. Während sie sich den schicken kleinen Hut geraderückte, marschierte sie die gewaltige Vordertreppe aus Stein hinauf und läutete an der Haustür, was die Stille des ruhigen Morgens zerriss und im Säulenvorbau eine Gruppe Tauben aufschreckte. Als niemand reagierte, spazierte ich los, um nach Peony oder irgendeinem anderen Hinweis auf das, was letzte Nacht geschehen war, zu suchen. Ein geziegelter Weg, flankiert von nackter Erde, schlängelte sich durch die Blumen. Im Boden führten tiefe Fußabdrücke bis hinter das Haus.
»Wo willst du hin? Myrtle!«
Der Pfad endete an einem sorgfältig gepflegten Rasen und mit ihm die Spur, dafür entdeckte ich Matschflecken auf der Backsteinterrasse, welche die Orangerie 1umgab. Das Dach dieses Wintergartens war gleichzeitig Miss Wodehouses Balkon, den ich von den Fenstern des Unterrichtsraums aus sehen konnte. Ich musterte die verschmierten Abdrücke und versuchte, festzustellen, was hier passiert sein mochte.
»Myrtle! Warte auf mich!« Miss Judson hastete zu mir, wobei sie achtgab, die Matschspuren nicht zu verwischen. Oder sie wollte sich lediglich die Stiefel nicht besudeln. »Oh, gut gemacht. Fußspuren!«
»Diese gehören Mr Hamm.« Ich zeigte auf die größeren Abdrücke mit der Hufeisenform, die von den Metallabsätzen des Gärtners stammten. Doch das andere Paar …
»Und die hier sind von Peony!«, sagte sie triumphierend.
»Die gehören zu einem Eichhörnchen.« Ich sah sie schräg von der Seite an. » Sie sollen mir doch Biologie beibringen.«
»Ich habe mich hinreißen lassen. Tja, Miss Wodehouse oder Trudy gehören diese anderen Abdrücke jedenfalls nicht. Sie sind zu groß.« Zu Demonstrationszwecken raffte sie ihre Röcke in die Höhe und hielt ihren eigenen Fuß darüber. »Außerdem scheinen sie von Männerschuhen zu stammen.«
»Haben Sie ihr Skizzenbuch dabei?«
Sie blinzelte mich an. »Mir kam nicht in den Sinn, dass wir Beweise sammeln würden – ach, egal. Nein.«
Ich ging auf die Knie und holte mein Detektivset heraus. Mit einer winzigen Kelle nahm ich eine Bodenprobe von der Stelle direkt neben einem der Fußabdrücke. Miss Judson zauberte in der Zwischenzeit etwas Beeindruckendes hervor: Sie reichte mir ein ausrollbares Maßband, damit ich die Spur vermessen konnte. »Ich weiß, du hast auch so eines«, sagte sie mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit in der Stimme. »Wenn diese Abdrücke von Mr Hamm stammen, dann war er hier. Irgendwann.«
»Letzte Nacht hat es geregnet«, sagte ich. »Doch inzwischen ist der Boden zu hart, um darin Spuren zu hinterlassen.« Ich stampfte fest in die Erde, verursachte aber nur eine undeutliche, kaum wahrnehmbare Delle. »Diese hier müssen vor etlichen Stunden entstanden sein. Ungefähr um Mitternacht, würde ich meinen.«
»Ist dem so, kleine Lady?«, donnerte hinter mir eine herzliche Stimme. Miss Judson und ich richteten uns auf und wirbelten herum. »Na, da schau einer an, wenn das nicht die junge Myrtle ist, das Töchterchen des Staatsanwalts!«
»Guten Morgen, Inspektor Hardy«, sagte ich. Inspektor Hardy war mein Lieblingspolizist aus der Polizeidirektion von Swinburne und arbeitete für die brandneue Ermittlungsabteilung, der ich hoffte, einmal beizutreten, wenn ich erst alt genug wäre. Zumindest solange ich nicht nach London ziehen und für Scotland Yard arbeiten würde. Ich machte einen kleinen Knicks. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.« Ich hatte zur Fernsprechzelle rennen müssen, um die Polizei zu verständigen, da Vater es nicht für notwendig hielt, im Haus ein Telefon installieren zu lassen. Es gab eine ganze Liste von modernen Dingen, die Vater für unnötig hielt, und Miss Judson ermahnte mich immer wieder dazu, dankbar zu sein, dass die »Ausbildung junger Damen aus gutem Hause« nicht dazu gehörte.
»Dann haben Sie uns also gerufen? Die vom Notruf meinten, es handele sich um einen Dumme-Jungen-Streich.«
Ich zupfte am Saum meines Kleids, das sich beharrlich weigerte, zu klein für mich zu werden. Bevor ich antworten konnte, ergriff Miss Judson das Wort.
»Ja, verzeihen Sie, Inspektor. Ich glaube, Myrtle hat etwas gesehen, was sie beunruhigte, und sich dann hinreißen lassen. Wir wollten keine Unannehmlichkeiten machen.«
»Oh, das haben Sie nicht, keine Sorge.« Inspektor Hardy nahm den Hut ab und kratzte sich am kahler werdenden Kopf. »Allerdings haben wir gewisse Scherereien mit den Angehörigen, wenn Sie verstehen.«
Ein junger Mann, etwa in Miss Judsons Alter, lungerte vor der Tür zur Orangerie herum und rauchte einen Zigarillo 2.
Ich sah mich nach hingeworfenen Stummeln um. Die Füße des Mannes konnte ich nicht sehen, allerdings war es gut möglich, dass er die zweite Spur von Abdrücken hinterlassen hatte.
»Sie da! Sind Sie bald fertig?« Sein Tonfall war ordinär und ungeduldig. »Ich will die Sache über die Bühne gebracht haben, bevor die Gaffer aus der Nachbarschaft in Scharen anrücken. Ah, wie ich sehe, rotten sie sich schon zusammen.« Er machte auf seinem nicht sichtbaren Absatz kehrt und knallte die Tür hinter sich zu.
»Wer war das?«, fragte ich.
»Ach, irgendein Neffe oder so was in der Art …« Inspektor Hardy zögerte. »Warum haben Sie denn nun angerufen, Miss Myrtle?«
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