Nach dieser Episode wurde die rationale mutazilitische Theologie mit Unterdrückung und der Gefahr der Irreligiosität in Verbindung gebracht: Wer zu viel vernünftelt, erklärt ein Sprichwort, der wird ungläubig. Die Ablehnung der Mutazila und ihrer Exzesse wird heute noch ins Spiel gebracht, wenn es darum geht, kritisches Denken aus den Studienprogrammen zu verbannen. Der Literalismus, der in manchen muslimischen Ländern in Ehren steht, in denen die Machthaber eine vorgebliche Treue zu den „Alten“ schätzen, die engstirnig als die identische Wiederholung dessen aufgefasst wird, was man für ihre Denk- und Handlungsweise hält, verbietet folglich nicht nur die Lehre der Philosophie, sondern auch die des Kalam , so zum Beispiel in Saudi-Arabien. Die Literalisten sagen, dass man das hinnehmen müsse, was von der Hand , dem Gesicht oder dem Thron Gottes gesagt wird, „ohne zu fragen ‚wie?‘“, wie es Ahmad ibn Hanbal vorschrieb, der zum Helden des Widerstands gegen die mutazilitische Macht wurde. Die Geschichte zeigt jedoch, dass die Ablehnung der Mutazila nicht notwendig zur Ablehnung der rationalen theologischen Spekulation geführt hat, denn diese ist unvermeidlich: Da die Verkündigung sich an Menschen richtet, die denken, gibt es keinen Nullpunkt der Interpretation. Der Literalismus ist einfach nur eine Lesart, die vorgibt, keine zu sein.
Aus der mutazilitischen Schule selbst entstand zu Beginn des 10. Jahrhunderts die ascharitische Reaktion auf sie, so genannt nach dem Namen des Gründers dieses Kalams , der sich von den rationalistischen Exzessen abwandte: Abu l-Hassan al-Asch’ari (von 873 bis 935). Bis zum Alter von vierzig Jahren war er Mutazilit, brach dann aber mit lautem Getöse mit seinem Meister und der Lehre, der er bis dahin angehangen hatte, indem er von der Kanzel der Moschee von Bagdad erklärte: „Wer mich kennt, weiß, wer ich bin. Wer mich nicht kennt, wisse, dass ich Abu l-Hassan al-Asch’ari bin, dass ich vertreten habe, dass der Koran geschaffen wurde, dass die Augen des Menschen Gott nicht sehen können und dass die Geschöpfe selbst ihre Handlungen setzen. Ach! Ich bereue es, ein Mutazilit gewesen zu sein. Ich schwöre diesen Meinungen ab und verpflichte mich, die Mutaziliten zu widerlegen, ihre Kindereien und ihre Schandtaten offenzulegen.“ 9
Die Tradition hat in dieser Weise dem Bruch, aus dem die ascharitische Theologie entstanden ist, eine dramatische Erscheinung verleihen wollen. Man bemerke diesbezüglich die symbolische Bedeutung des vierzigsten Jahrs, das als das prophetische Alter angesehen wird. Überdies berichtet man, dass Al-Asch’ari die Entscheidung, seinem Meinungswandel öffentliches Aufsehen zu verleihen, nach einem Traum, in dem der Prophet persönlich ihm erschienen sei, gefällt habe. Wie dem auch sei, es steht fest, dass er die Auffassung der Mutazila im Hinblick auf das theologische Problem der Versöhnung der Gerechtigkeit Gottes (das heißt die Belohnung oder Bestrafung der Handlungen gemäß ihrer Natur) mit der Barmherzigkeit Gottes (das heißt mit seiner Fähigkeit, schlechte Taten zu tilgen oder den Wert der guten zu steigern) für unbefriedigend hielt. Dieser intellektuelle und religiöse Streit wurde seinerseits in den Erzählungen, die davon überliefert sind, hochgespielt. Al-Asch’ari habe eines Tages seinem früheren Meister al-Dschubba’i (gestorben 915) folgende knifflige Frage vorgelegt: Drei Brüder haben dieselbe Erziehung erhalten; der erste wird bei seinem Tod für seine guten Taten belohnt und kommt ins Paradies; der zweite, der ein Sünder war, wird bestraft und gelangt in die Hölle; der dritte, der im Kindesalter starb, ohne Gut und Böse zu kennen, gelangt in den Limbus. Auf diese Weise, so scheint es, wird die algebraische göttliche Gerechtigkeit, wie die Mutazila sie denkt, gewahrt. Doch nehmen wir an, führt Al-Asch’ari aus, dass der dritte Bruder Gott fragt: „Warum hast du mir nicht zu leben erlaubt, um wie mein Bruder Gutes zu tun?“ Worauf der zweite Bruder, der Verdammte, noch nachlegt: „Warum hast du mich nicht als Kind sterben lassen, um mir das Leben zu ersparen, das mich in die Hölle geführt hat?“ Die Geschichte besagt, dass der verblüffte Al-Dschubba’i nicht wusste, was er seinem Schüler antworten sollte, der sich daraufhin von ihm trennte.
Die Aschariya ist ein geistlicher und dann geistiger Aufstand gegen die Vorstellung eines Gottes, der ganz Vernunft ist und schließlich in seiner transzendenten Durchsichtigkeit abstrakt und unverständlich geworden ist. Sie ist das Verlangen nach einem persönlichen Gott, dessen Attribute es erlauben, ihn anzurufen, denn er hat sich für uns in seinem Buch die schönsten Namen gegeben; sie ist der Ruf nach einem Gott, an den es Sinn hat, ein Gebet für die kleinen und großen Dinge zu richten, um das Unvermeidliche zu vermeiden, und der für eine Träne bereit ist, die Sünden eines Lotterlebens zu vergeben. Ohne „wie?“. Die Vernunft wird nicht aufgegeben, im Gegenteil: Das ascharitische Kalam verlangt, dass sie den Weg anzeigt, dass an ihrem Ende und als ihre äußerste Spitze sich authentisch und rein das Gebet erhebt, das aus der Verwirrung entsteht und die Begegnung mit Gott bewirkt.
Die Aschariya ist, vereinfacht gesagt, eine Reaktion auf die Exzesse des Rationalismus, und die Mutazila und die Aschariya stellen, noch vereinfachter gesagt, über ihre theologischen Unterschiede hinaus zwei Haltungen , zwei Geisteshaltungen dar, die in immer erneuerten Formen um das Feld des islamischen Denkens kämpfen. Die Mutazila umfasst natürlich äußerst unterschiedliche Theologen, aber man kann in ihr einen Geist, einen philosophischen Geist, sehen, der den Wagemut der Vernunft teilt, im Gegensatz zum Geist der Aschariya, der bemüht ist, die Gemeinschaft zusammenzuhalten, indem er sie nicht den spekulativen Exzessen aussetzt, aus denen eine Trennung der Eliten vom Volk sowie Divergenzen innerhalb dieser Eliten hervorgehen könnten. Die Philosophie ist im Islam mit dem mutazilitischen Geist verbunden, während die Aschariya die berühmteste Verdammung der Philosophie, nämlich durch Ghazali im 11. Jahrhundert, inspiriert hat.
Die Mutazila ist nicht nur eine geschichtlich verortete Schule, sondern markiert vor allem die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Philosophie im Islam. Wenn heute die Notwendigkeit sich aufdrängt, das religiöse Denken des Islams wiederzubeleben , um ein Werk des indischen Philosophen Muhammad Iqbal (1877–1938) zu zitieren, dann tritt der mutazilitische Geist wieder zutage; er findet sich ausgesprochen in bestimmten Thesen der Reformatoren des Islam wie des Ägypters Mohammed Abdou (gestorben 1905), des Inders Ameer Ali (gestorben 1928) oder derjenigen, die heute die Aufgabe weiterführen, die Modernität, die der Islam in sich trägt, ans Licht zu bringen, indem sie die Möglichkeiten einer inneren Reform der Religion freilegen.
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