Der Koran erklärt in einem der zahlreichen Verse, in denen der Text sich auf sich selbst bezieht (41:2–3): „Dies ist eine Offenbarung von dem Allerbarmer, dem Barmherzigen. Ein Buch, dessen Verse ausführlich dargelegt sind, als ein arabischer Qur’an, für Leute, die Wissen besitzen“ 5. Ein „arabischer Koran“? Man kann diesen Ausdruck auf zweierlei Arten verstehen. Entweder schwelgt man darin, die arabische Sprache zu preisen, die Sprache der Offenbarung, geheiligt unter allen anderen, weil sie gewählt wurde, das Wort Gottes auszusprechen. Die andere Möglichkeit, die wahrscheinlich mehr dem entspricht, was im Koran selbst gesagt wird, besteht darin, den Ausdruck so zu verstehen: Gott hat sie gewählt, um sein Wort in einer menschengerechten – einfach in einer menschlichen – Sprache auszudrücken, die sich in ihrer Menschlichkeit durch nichts vor anderen Sprachen auszeichnet, wenn es darum geht, Gottes Koran erklingen zu lassen. Im Übrigen erinnert Gott, um sich verständlich zu machen, daran, dass er alle Sprachen der Kinder Adams ausgezeichnet hat, indem er ihnen, wo immer sie sich auch aufhalten, einen Boten schickte, der wie sie spricht: „Wir schickten keinen Gesandten, es sei denn mit der Sprache seines Volkes, auf dass er sie aufkläre.“ (14:4). Wenngleich es eine Sprache des Korans gibt, so gibt es dessen ungeachtet keine bestimmte Sprache des Islam, oder aber alle menschlichen Sprachen sind Sprache des Islam. Man hört oft, dass der Koran eine besondere innere Beziehung zum Arabischen, in dem er verkündet wurde, unterhält, die ihn unübersetzbar macht. Entweder ist das eine bloße Binsenwahrheit – nichts ist wirklich von einer Sprache in eine andere übersetzbar –, oder aber Obskurantismus: Denn weshalb sollte sich die Offenbarung an die Menschen richten, ohne auch mit ihnen zu sprechen?
Prädeterminismus, Sinn der menschlichen Verantwortung, Beziehung der Attribute zum göttlichen Wesen, erschaffener oder unerschaffener Koran: Das sind die Fragen, aus deren unterschiedlichen Antworten ebenso viele philosophische Denkschulen entstanden sind, die sich der Notwendigkeit verdanken, das Wort ( Kalam ) Gottes zu verstehen. Die „Wissenschaft von diesem Wort“, auf Arabisch ilm al-kalam oder ganz einfach Kalam , entsteht als Disziplin, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Es handelt sich um eine besondere Wissenschaft, die sicherlich nicht einfach in die Landschaft der sogenannten „Wissenschaften der Religion“ gestellt werden kann, jener Wissenschaften, die sich ganz nahe an der koranischen Botschaft halten. Unter ihnen ist natürlich die Wissenschaft des buchstäblichsten Kommentars des Korans (der tafsir ); sie stützt sich auf die Sprachwissenschaften, die notwendig sind für das volle Verständnis des Textes, so wie er offenbart worden ist: arabische Grammatik und Rhetorik. Da im Übrigen die muslimische Gemeinschaft aus der koranischen Offenbarung entstanden ist, das heißt in Absetzung von den Stammesgesetzen, welche bis dahin die Machtverhältnisse und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen geregelt, Verbrechen und Strafe und so weiter definiert hatten, entwickelte sich die muslimische Rechtsprechung ( fiqh genannt), um die Entwicklungen dieser Gemeinschaft zu begleiten. Neben dem Koran stützt sie sich auf die dem Propheten zugeschriebenen Aussagen oder auf die Handlungen, die er in diesen oder jenen Umständen vollzogen hat: eine Wissenschaft des Hadith, das heißt der mündlichen Überlieferungen, die die Aussagen und Handlungen des Propheten sowie ihre Umstände betreffen, wird somit zum wesentlichen Fundament der „Wissenschaften der Religion“.
Das Kalam kann nicht am Rande dieser „Wissenschaften der Religion“ verortet werden. Einerseits ist sein proklamierter Gegenstand die Verteidigung der Glaubensdogmen, da es, gemäß der Definition, die der berühmte Ibn Chaldun (gestorben 1404) von ihr gab, „die Wissenschaft ist, die darin besteht, mit Hilfe von Vernunftargumenten die Glaubensartikel zu verteidigen und die Erneuerer zu widerlegen, die sich vom Glauben der ersten Muslime und von der religiösen Rechtgläubigkeit abwenden“. Doch andererseits, eben weil sein Zugang zu den Religionsangelegenheiten darin besteht, die Vernunft damit zu beauftragen, die Offenbarung nach ihrem Maß zu bemessen, ist das Kalam ein potenzieller Produzent jener „Erneuerungen“, die darin bestehen, vernünftig zu urteilen, anstatt sich anzustrengen, seine Sichtweise an jene Sichtweise anzupassen, die man den „ersten Muslime“ unterstellt.
Mithilfe der Vernunft die Glaubensartikel zu verteidigen, heißt auch, sie gemäß dieser Vernunft zu rekonstruieren und also – in den Augen derer, die meinen, dass Treue nur durch identische Wiederholung zu beweisen sei – dem Rationalismus zu verfallen. Die Angst, zusehen zu müssen, wie die Vernunft sich als Selbstzweck setzt und somit zur Eristik verkommt, in der es vor allem darum geht, die Argumente des Gegners zu bezwingen 6, wird sehr gut in einer Anekdote ausgedrückt, die man über den Gründer einer der wichtigsten Rechtschulen im Islam, Abu Hanifa (gestorben 767), berichtet. Als er seinem Sohn verbietet, sich auf die Debatten des Kalam einzulassen, drückt dieser seine Verwunderung darüber aus, dass sein Vater ihn daran hindern will, ihm auf dem Weg zu folgen, auf dem Abu Hanifa selbst ein Meister ist. Dieser antwortet ihm darauf Folgendes: „Wenn wir diskutierten, haben wir geschwiegen, aus Angst, dass ein Gesprächspartner dem Irrtum verfällt. Wenn jedoch ihr Diskussionen beginnt, wünscht ein jeder von euch, seinen Gefährten ausrutschen und in den Unglauben fallen zu sehen. Wer dies wünscht, tappt selbst in diese Falle.“
Angst vor der Vernunft und davor, dass ihr Gebrauch dazu führt, auszurutschen und in den Unglauben zu fallen? Wer nichts so sehr fürchtet als die ihrem eigenen Vermögen überantwortete Vernunft, als das freie forschende Denken, klagt schnell die Spekulation an, die „sich vom dogmatischen Denken abgesondert“ 7zu haben scheint. „Absonderung“, auf Arabisch i’tazala , wird jenen Theologen ihren Namen geben, die man Mutazila 8nennt, was wörtlich übersetzt heißt: „die, die sich abgesondert haben“. Man sagt übrigens, dass Hassan al-Basri (gestorben 728), der am Ursprung sowohl des theologischen Nachdenkens des Islam als auch einer bestimmten Systematisierung des islamischen Mystizismus, des Sufismus, steht, in Bezug auf seine vernünftelnden und abtrünnigen Schüler erklärte: „Ihr habt euch von uns getrennt.“ Die Mutaziliten selbst bezeichneten sich durch den Hinweis auf ihre philosophischen Positionen als „die Anhänger der Einheit und der Gerechtigkeit“, das heißt der göttlichen Einheit, die nicht von der Vielheit der Attribute beeinträchtigt ist, und der Gerechtigkeit Gottes, die nur auf Individuen anwendbar ist, die frei sind zu handeln.
Angst vor der Vernunft. Doch was soll man von einer Situation sagen, in der der Rationalismus verlangen würde, dass alle sich dem beugen, was er verlangt, und bereit wäre, wenn nötig eine Schreckensherrschaft zu errichten? Wäre es ein absoluter Widerspruch, die Vernunft entschlossen zu sehen, die Geister und Herzen durch Gewalt für sich zu gewinnen? Denn das ist genau das, was passiert, wenn die politische Macht, insbesondere in der zwanzigjährigen Herrschaft des Kalifen Al-Ma’mun (von 813 bis 833), beschließt, die rationale, ja rationalistische mutazilitische Theologie als offizielle Lehre durchzusetzen. Das charakteristischste Kennzeichen der rationalistischen Inquisition – ein Oxymoron, das in der Geistesgeschichte der muslimischen Welt unter dem Namen mihna bekannt ist – unter Al-Ma’mun war die Einkerkerung des Rechtsgelehrten Ahmad ibn Hanbal, der beschuldigt wurde, sich hartnäckig der rationalen „Wahrheit“ des geschaffenen Korans zu verweigern, die der Kalif 817, vier Jahre nachdem er an die Macht gelangt war, zum offiziellen Glaubensartikel erklärt hatte. Der Rechtsgelehrte, der stoisch die Folter ertragen hatte und unter dem Nachfolger Al-Ma’muns freigelassen und rehabilitiert wurde, wurde auf diese Weise zum Symbol für die Fähigkeit des menschlichen Geistes, dem unterdrückenden Dogmatismus zu widerstehen, der in diesem Fall der Dogmatismus der Vernunft war!
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