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Es dämmerte bereits, als sie am nächsten Abend ihren Roller parkte und das verrostete Gartentor aufdrückte. Die Villa thronte im Garten, nur erreichbar über den steinernen Treppenaufgang, der ihr etwas wie Würde verlieh.
Im Treppenhaus roch es nach altem Holz und Äpfeln. Das Deckenlicht legte einen gelben Schein auf die ausgetretenen Stufen. Jona blieb im Vorraum der Diele stehen und lauschte einen Moment in die Stille, der ein leises Schleifgeräusch unterlegt war. Das Geräusch kam von unterhalb der Treppen. Bisher war ihr gar nicht aufgefallen, dass es Kellerräume gab. Ob der Geruch nach gelagertem Obst den Vorratskammern entströmte? Sie setzte einen Schritt nach vorn und stand plötzlich im Dunkeln. Wieder dieses Geräusch. Dazu ein Sirren.
»Hallo?«
Niemand antwortete. Kurz entschlossen trat sie die Stufen ins Untergeschoss hinunter, vorbei an einem blinden Spiegel und einem Garderobenständer, hinter dem eine Eisentür offenstand. Von der Schwelle aus bot sich ihr ein seltsamer Anblick. In der Mitte eines unverputzten Gewölbes beugten sich der Student und Ellen Beetz über ein auf den Sattel gestelltes Fahrrad. Hinter ihnen bedeckten Sägen, Gartengeräte und Schraubenschlüssel die Wände, in der rechten Ecke stand eine Töpferbank. Niemand hatte beim Einzug diese perfekt ausgestattete Werkstatt erwähnt, die sich in dem fensterlosen Raum versteckte. Als Jona an die offene Eisentür klopfte, schreckten beide auf.
»Hey.« Joschua lächelte. »Wieder da?«
Mühsam erhob sich Frau Beetz und wischte die ölverschmierte Hand an ihrer Gartenschürze ab. Das Neonlicht leuchtete unbarmherzig ihr müdes Gesicht aus.
»Ich will nur ein paar Sachen von oben holen. Und mich bei Frau Vers nochmal für die Pralinen bedanken.«
Ihr nächster Satz wurde vom Klimpern unterbrochen, mit dem der Schraubenschlüssel zu Boden ging. Ellen Beetz stoppte ihn mit dem Schuh. »Ich kann es ihr später ausrichten.«
»Das mache ich lieber persönlich.«
»Zu spät.« Diesmal war es der Student, der ihr entgegentrat. In seiner schmucken Hose und dem Leinenhemd wirkte er fehl an diesem Ort. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf seine sauberen Hände. Erklärte er seiner Nachbarin, was zu tun war, statt mitzuhelfen? »Heute Nacht kommt Hanna nicht nach Hause.«
»Herr Zingler!«
»Sorry«, erwiderte der Student und sah Ellen Beetz mit ehrlichem Bedauern an, »aber es gibt nichts, was sich lange verheimlichen lässt.« Er strich sich über seinen Vollbart. »Hanna ist zur Polizei gegangen und hat behauptet, sie hätte Torben Fischer umgebracht.«
»Wir glauben das alle nicht«, beeilte sich Ellen Beetz zu sagen. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Leben, das Sinn hätte, fragte nicht danach.« Joschua zuckte mit den Schultern. »Sagt jedenfalls Adorno in seiner negativen Dialektik. Ich kann auch nicht glauben, dass Hanna so etwas getan hat. Andererseits ist sie aufs Präsidium gegangen und hat denen ihre Schuld wie ein ordentlich geschnürtes Päckchen auf den Tresen gelegt. Und diese Helden haben sie dabehalten und sich auf die Schulter geklopft für ihren tollen Erfolg. Ich glaube, die Beerdigung hat sie in eine Krise gestürzt. Der Bulle mit dem weißen Hemd, der einen Besen verschluckt hat, hat sie wohl verfolgt.«
Steiner! Jonas Gesicht glühte. Natürlich war er zur Beerdigung von Torben Fischer gegangen, er war der zuständige Kommissar und auch der, bei dem eine Geständige zuerst landete. Was sie alles gar nicht wissen durfte. Aber wieso war Hanna zur Beerdigung gegangen? Doch nicht wegen ihrem Gespräch nach dem Sektempfang.
»Wieso Mord?« fragte sie so bestürzt wie möglich. »Der Mann, der die Wohnung meines Vormieters ausräumte, sagte mir, sein Bruder hätte sich wohnlich vergrößert.«
»Wohnlich vergrößert – das ist stark.« Der Student grinste kurz. Ohne Vorwarnung stieß Ellen Betz das Fahrrad um. Oder hatte sie sich daran festhalten wollen? Als sie sich wieder gefangen hatte, legte sie die Gartenschürze ab und ordnete ihr drahtig wirkendes, graues Haar.
»Wir haben versucht, Privatsphäre zu achten. Wer kennt schon die Geschichte seines Vormieters?« Ihr Blick verlor die Schärfe, als sann sie über diese Frage nach, bevor sie unvermittelt von Hanna Vers zu erzählen begann, von ihrem freundlichen, zurückgezogenen Wesen, ihrer Schreckhaftigkeit, die mit dem Einzug von Torben Fischer zugenommen hätte. »Dieser Mord hat sie durcheinandergebracht, genau wie die Angst vor einem Verhör.«
Genau wie ein Gespräch über Ängste, fehlendes Selbstvertrauen und Mut. Jonas Magen krampfte sich zusammen. »Gesteht man deshalb einen Mord?« Unwillkürlich glitt ihr Blick über die Sägen an der Wand.
»Sie hat manchmal diese Bilder im Kopf. Da geht was durcheinander bei ihr. Selbst Maren ist es nicht gelungen, sie von ihrer fixen Idee abzubringen. Und jetzt läuft irgendwo ein Mörder frei rum, und Frau Vers bezahlt für ihre Ängste. Das ist nicht gerecht.«
»Gerechtigkeit gibt es nicht.« Jona fing den interessierten Blick des Studenten auf und wandte sich an Ellen Beetz, die neben seiner schmächtigen Gestalt plump wirkte, und verzweifelt.
»Außerdem wird niemand verurteilt, wenn nur irgendein Zweifel an der Richtigkeit der Aussage besteht.«
»Kennen Sie sich damit aus?«
»Ich hatte vor langer Zeit mal eine Klientin in der Praxis, die in Schwierigkeiten war«, hörte Jona sich sagen, während in ihrem Kopf eine Alarmglocke schrillte.
»Bevor Sie gehen, bitte kurz bei mir klingeln«, sagte Joschua, »ich hab noch den Toilettenschlüssel zur Dachmansarde.«
»Ich gehe jetzt gleich.«
»Dann komme ich gerade mit. Danke, Frau Beetz, ich schaue nachher nochmal vorbei.«
Summend lief der Student neben ihr die Stufen hinauf. Vor seiner Haustür sah er ihr das erste Mal ins Gesicht.
»Ich besitze keinen Schlüssel zur Dachtoilette. Aber die Beetz hätte dich nicht so schnell aus ihrem Gebet entlassen. Auf einen Tee?«
Zwei Minuten später saß Jona auf einem sperrmüllverdächtigen Küchenstuhl und verfolgte, wie der Student Tee aufbrühte und den Inhalt einer angebrochenen Kekspackung auf einen Unterteller dekorierte. Ihr war noch immer flau. Wieso musste sie Hanna nur an dem Abend beschwören, auf ihre innere Stimme zu hören, egal was andere sagten. Sie kannte sie doch gar nicht. Ein fast therapeutisches Gespräch unter Sekteinfluss; wenn sie das Ute erzählen würde. Jona sah auf. Was hatte der Student gerade gesagt – dass er einfache Einrichtungen mochte?
Sie sah sich in der Küche um. Dass hier nicht gekocht wurde, fiel selbst ihr auf. Die wenigen Dinge, die in den offenen Regalen standen, sahen nach Instantgetränken und Fingerfood aus. Was sich hinter dem Vorhang des oberen Hängeschranks verbarg, würde er ihr bestimmt nicht lange vorenthalten. Seine Attitüde, materiellen Dingen nichts abgewinnen zu können, stand zu deutlich im Raum. Im Gegensatz zur Patchworkeinrichtung nahm sich seine Kleidung makellos aus. Hemd und Stoffhose. Am Flurhaken ein Jackett. Sie schob den Gedanken an Hanna Vers’ leere Wohnung gegenüber fort, während ihr der Student eine Tasse Tee reichte und sich einen Küchenhocker an den Tisch heranzog.
»Danke.« Jona blies in den Tee. »Auch für die Rettung eben.«
»Nichts gegen Frau Beetz. Sie ist mehr als in Ordnung. Auch wenn sie denkt, ich mache den ganzen Tag nichts anderes als Joints rauchen und Löcher in die Luft philosophieren.«
»Und machst du noch etwas anderes?«
Joschua strich sich über den Bart. »Vorlesungen besuchen, Referate schreiben, Thesen prüfen, nachdenken, zweimal in der Woche Nachtdienst im Parkhaus, Mathe-Nachhilfe geben, mit Freunden ausgehen, Gedichte schreiben und …«, er lächelte, »noch ein paar andere Dinge.«
»Wie Frau Beetz Tipps beim Rad reparieren geben.«
»Eher andersrum. Ich habe ihr zugesehen, um was zu lernen. Sie kann alles, und sie macht auch alles im Haus. Manchmal denke ich, sie weiß auch alles.«
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