Hervé Guibert - Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat

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Freundschaften in Zeiten von HIV/Aids: Der Roman einer Epoche – wieder erhältlich!
In erschütternder Klarheit schildert «Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat» die Erfahrung einer Aids-Diagnose in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Wir folgen dem Erzähler von einem Arzttermin zum nächsten. Wir erfahren vom Fortschreiten der Krankheit, den Reaktionen der Freunde und Freundinnen und immer wieder von den Versprechen auf Heilung, an die sich der Erzähler klammert, wie von der tiefen Verzweiflung, in die ihn ihre Enttäuschung stürzt. Das Buch, 1990 bei Gallimard erschienen, löste in Frankreich einen Skandal aus. Schnell wurde Michel Foucault als der im Buch beschriebene Freund des Erzählers identifiziert, von dessen letzten Monaten der Roman parallel berichtet. Binnen kürzester Zeit wurde das Buch ein Bestseller. Guibert setzte seine Dokumentation des Lebens mit der damals sicher tödlich verlaufenden Krankheit in zahlreichen Texten fort, die vielfach erst nach seinem Tod 1991 veröffentlicht wurden. Es ist der intime, zugleich kühle wie zärtliche Ton, der bei aller ungeschönten
Brutalität die besondere Qualität dieser Texte ausmacht: Wie wenige andere Autor*innen rang Guibert mit den Möglichkeiten der Sprache, um der ganzen Spannweite des Krankseins Ausdruck zu verleihen.

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HERVÉ GUIBERT

DEM FREUND, DER MIR DAS LEBEN NICHT GERETTET HAT

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Roman

August Verlag

Der Roman Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat erschien 1990 im französischen Original bei Gallimard. 1991 wurde er in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im Rowohlt Verlag veröffentlicht. Die vorliegende Ausgabe wurde auf Grundlage der Übersetzung von 1991 an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst und vom Übersetzer durchgesehen.

Inhalt

Kapitel 1 1 Ich hatte drei Monate lang Aids . Genauer, ich glaubte drei Monate lang, ich sei durch die tödlich verlaufende Krankheit verurteilt, die Aids genannt wird. Und in der Tat war es keine Einbildung, ich war wirklich erkrankt, ein Test mit positivem Ergebnis bestätigte es, ebenso Analysen, die bewiesen, dass mein Blut schon auf dem Weg des Verfalls war. Doch nach drei Monaten ließ mich ein unerhörter Glücksfall glauben, ja gab mir beinahe die Gewissheit, dass ich dieser Krankheit entkommen könnte, die alle Welt noch für unheilbar hielt. So, wie ich niemandem außer einigen Freunden, man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen, anvertraut hatte, dass ich verurteilt war, so vertraute ich niemandem außer diesen wenigen Freunden an, dass ich davonkommen, dass ich, durch diesen unerhörten Glücksfall, weltweit einer der Ersten sein würde, die diese unerbittliche Krankheit überleben.

Kapitel 2 2 Heute, da ich dies Buch beginne , am 26. Dezember 1988, in Rom, wohin ich allein gefahren bin, gegen den Willen aller, auf der Flucht vor dieser Handvoll Freunde, die, um meine seelische Gesundheit besorgt, mich zurückzuhalten versuchten, am heutigen Feiertag, da alle Läden geschlossen haben und jeder Passant ein Ausländer ist, in Rom, wo mir endgültig klar wird, dass ich die Menschen nicht liebe, wo ich also, bereit zu allem, sie zu fliehen wie die Pest, nicht weiß, mit wem noch wohin ich essen gehen soll, mehrere Monate nach jenen drei Monaten, in denen ich mir nach bestem Wissen meiner Verurteilung sicher war, und nach den darauf folgenden Monaten, da ich dieses unerhörten Glücksfalls wegen glauben durfte, begnadigt zu sein, zwischen Zweifel und Hellsicht, mit der Mutlosigkeit wie auch mit der Hoffnung am Ende, weiß ich nicht, woran ich mich bei irgendeiner dieser entscheidenden Fragen oder bei dieser Alternative von Verurteilung und Begnadigung halten soll, weiß ich nicht, ob diese Rettung eine Falle ist, in die man mich wie in einen Hinterhalt gelockt hat, um mich zu beruhigen, oder wahrhaftig ein Science-Fiction-Abenteuer mit mir als einem der Helden, weiß ich nicht, ob es nicht lachhaft menschlich ist, an diese Gnade und an dies Wunder zu glauben. Ich ahne die Architektur dieses neuen Buchs, das ich all die vergangenen Wochen in mir zurückgehalten habe, aber seinen Verlauf von Anfang bis Ende kenne ich nicht, ich kann mir mehrere Möglichkeiten vorstellen, wie es ausgeht, die im Augenblick sämtlich schlimmen Vorahnungen oder einem Wunschdenken entspringen, doch der Zusammenhang seiner Wahrheit ist mir noch verborgen; ich sage mir, dass dies Buch seine Existenzberechtigung aus nichts anderem bezieht als aus jenem schmalen Rest von Ungewissheit, der allen Kranken der Welt gemeinsam ist.

Kapitel 3 3 Ich bin allein hier , und man bemitleidet mich, man ist um mich besorgt, man findet, ich schade mir, jene Freunde, die man, wie Eugénie meint, an den Fingern einer Hand abzählen kann, rufen mich regelmäßig voll Mitgefühl an, mich, der ich gerade entdeckt habe, dass ich die Menschen nicht liebe, nein, ich liebe sie entschieden nicht, ich hasse sie, und das könnte alles erklären, diesen von jeher zähen Hass, ich beginne ein neues Buch, um einen Gefährten zu haben, einen Gesprächspartner, jemanden, mit dem ich essen und schlafen, neben dem ich träumen und Alpträume haben kann, der einzige noch erträgliche Freund. Mein Buch, mein Gefährte, das ursprünglich, vom Vorsatz her, so streng sein sollte, hat schon begonnen, mich nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, obgleich doch dem Anschein nach ich der unumschränkte Kapitän auf dieser Sichtfahrt bin. Ein Teufel hat sich in meinen Schiffsbauch eingeschlichen: T. B. Ich habe aufgehört, ihn zu lesen, um die Vergiftung aufzuhalten. Es heißt, jede erneute Einspritzung des Virus durch Flüssigkeiten, Blut oder Sperma, greife den schon infizierten Kranken erneut an, man behauptet das vielleicht, um den Schaden zu begrenzen.

Kapitel 4 4 Der Zerstörungsprozess , der in meinem Blut begonnen hat, greift von Tag zu Tag weiter um sich und lässt meinen Fall zurzeit als Leukopenie erscheinen. Die jüngste Analyse, sie stammt vom 18. November, gibt mir 368 T4-Zellen, ein Mann verfügt bei guter Gesundheit über rund 1000 bis 1300 davon. Die T4-Zellen sind jene Gruppe weißer Blutkörperchen, die das Aids-Virus hauptsächlich angreift und wodurch der Immunschutz nach und nach geschwächt wird. Die schwersten Attacken, die Pneumocystis, welche die Lungen, und die Toxoplasmose, welche das Hirn befällt, schalten sich im Bereich unter 200 T4-Zellen ein; mittlerweile verzögert man sie mittels Verschreibung von AZT. Zu Beginn der Geschichte von Aids nannte man die T4-Zellen „the keepers“, die Hüter, und die T8-Zellen, eine andere Fraktion der Leukozyten, „the killers“, die Mörder. Vor dem Auftauchen von Aids hatte ein Erfinder von Computerspielen das Umsichgreifen der Krankheit im Blut vorgezeichnet. In seinem Spiel für Jugendliche erschien das Blut auf dem Bildschirm als Labyrinth, in dem der Pac-Man umherschweift, ein gelber, von einem Hebel gesteuerter Shadok, der im Vorbeigehen alles frisst, die verschiedenen Gänge von Plankton leert und dabei zugleich von immer zahlreicher umherwimmelnden roten, noch gefräßigeren Shadoks bedroht wird. Wollte man das Pac-Man-Spiel, das sich einige Zeit gehalten hat, bevor es aus der Mode kam, auf Aids übertragen, so bildeten die T-Zellen die Urbevölkerung des Labyrinths, die T8-Zellen wären die gelben Shadoks, bedrängt von HIV, dies wiederum durch die roten Shadoks verkörpert, die danach gieren, mehr und mehr Immunplankton zu vertilgen. Lange bevor die Untersuchungen mir die Gewissheit meiner Erkrankung bestätigten, hatte ich das Gefühl, mein Blut sei plötzlich freigelegt, entblößt, als sei es immer von einem Kleidungsstück oder einer Kapuze beschützt worden, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, da es selbstverständlich war, und als habe etwas, ich begriff nicht was, diesen Schutz entfernt. Ich musste fortan mit bloßgelegtem, ausgesetztem Blut leben, wie der entkleidete Körper einen Alptraum durchqueren muss. Mein Blut war entlarvt, überall, allerorten und für immer, es sei denn, unwahrscheinliche Transfusionen würden ein Wunder bewirken, mein Blut war nackt zu jeder Zeit, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn ich auf der Straße ging, war unablässig von einem Pfeil bedroht, der zu jeder Zeit auf mich zielte. Sieht man es den Augen an? Meine Sorge ist weniger, ob ich mir einen menschlichen Blick bewahren kann, sondern ob mein Blick womöglich allzu menschlich wird, wie jener der Gefangenen in NACHT UND NEBEL, dem Dokumentarfilm über die Konzentrationslager.

Kapitel 5 5 Ich spürte das Nahen des Todes im Spiegel , in meinem Blick im Spiegel, schon lange bevor er sich in ihm wirklich festgesetzt hatte. Trieb ich diesen Tod schon mit meinem Blick in die Augen der anderen? Ich habe es nicht allen gesagt. Bis jetzt, bis zum Buch, hatte ich es nicht allen gesagt. Wie Muzil hätte ich gern die Kraft gehabt, den unsinnigen Stolz und auch die Großmut, es überhaupt niemandem zu sagen, um die Freundschaften frei wie die Luft leben zu lassen und sorglos und ewig. Doch wie soll das gehen, wenn man erschöpft ist und es der Krankheit gelingt, sogar die Freundschaft zu bedrohen? Einigen habe ich es gesagt: Jules, dann David, dann Gustave, dann Berthe, Edwige wollte ich es nicht sagen, doch ich spürte schon beim ersten Frühstück, wie das Schweigen und die Lüge sie grauenhaft weit von mir entfernten, und dass, würden wir uns nicht augenblicklich wieder der Wahrheit unterordnen, es unwiederbringlich zu spät sein würde, also habe ich es ihr gesagt, um treu zu bleiben, ich habe es unter dem Druck der Ereignisse Bill sagen müssen, und mir schien es, als verliere ich im selben Augenblick alle Freiheit und alle Kontrolle über meine Krankheit, und dann habe ich es Suzanne gesagt, denn sie ist so alt, dass ihr vor nichts mehr graut, sie hat niemals jemanden geliebt außer einem Hund, um den sie an dem Tag weinte, als sie ihn ins Tierheim abschob, Suzanne, die dreiundneunzig Jahre alt ist und deren Lebenserwartung ich mit diesem Bekenntnis einholte, welches ihr Gedächtnis auch unwirklich werden lassen oder von einem Augenblick zum anderen auslöschen konnte, Suzanne, die ohne Weiteres bereit war, etwas so Ungeheures auf der Stelle zu vergessen.

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