Ich habe es Eugénie nicht gesagt, ich esse mit ihr in der Closerie , sieht sie es mir an den Augen an? Ihre Gesellschaft langweilt mich mehr und mehr. Ich habe den Eindruck, nur noch zu Menschen interessante Beziehungen zu haben, die Bescheid wissen, alles ist null und nichtig geworden und zusammengebrochen, wertlos und reizlos, alles rings um diese Mitteilung, wenn ihr nicht mehr Tag um Tag freundschaftlich begegnet wird, wenn mein Sträuben mich im Stich lässt. Es meinen Eltern sagen, das hieße mich dem aussetzen, dass mir die ganze Welt im selben Augenblick die Fresse zuscheißt, es hieße, mir von allen Arschlöchern dieser Erde die Fresse vollscheißen, mir die Fresse mit ihrer stinkenden Scheiße zukacken zu lassen. Meine allererste Sorge in dieser Geschichte ist, vor den Blicken meiner Eltern geschützt zu sterben.
Kapitel 6 6 Es wurde mir einfach so klar , und ich sagte es Dr. Chandi, sobald er die Entwicklung des Virus in meinem Körper zu verfolgen begann, Aids ist nicht wirklich eine Krankheit, und es als eine solche zu bezeichnen, vereinfacht die Dinge, sondern es ist ein Zustand von Schwäche und Ergebung, welcher dem Tier, das man in sich trug, den Käfig öffnet, dem Tier, dem ich gezwungenermaßen unumschränkte Vollmacht gebe, damit es mich verschlingt, ich muss mir lebendigen Leibes antun lassen, was an meinem Leichnam zu tun es sich anschicken würde, um ihn zu zersetzen. Die Pneumozystis-Pilze, würgende Boas für Lunge und Atem, und die Toxoplasmose-Erreger, die das Hirn zerrütten, leben im Inneren jedes Menschen, nur verwehrt ihnen das Gleichgewicht seines Immunsystems schlicht und einfach das Bürgerrecht, während Aids ihnen grünes Licht gibt und die Schleusen der Zerstörung öffnet. Ohne Wissen um die Zähigkeit dessen, was ihn zerfraß, hatte Muzil es im Krankenhausbett ausgesprochen, bevor die Forscher es entdeckten: „Das Ding ist wohl aus Afrika herübergekommen.“ Aids, das aus dem Blut der grünen Meerkatzen stammte, ist eine Krankheit von Zauberern, von Hexern.
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Ich hatte drei Monate lang Aids . Genauer, ich glaubte drei Monate lang, ich sei durch die tödlich verlaufende Krankheit verurteilt, die Aids genannt wird. Und in der Tat war es keine Einbildung, ich war wirklich erkrankt, ein Test mit positivem Ergebnis bestätigte es, ebenso Analysen, die bewiesen, dass mein Blut schon auf dem Weg des Verfalls war. Doch nach drei Monaten ließ mich ein unerhörter Glücksfall glauben, ja gab mir beinahe die Gewissheit, dass ich dieser Krankheit entkommen könnte, die alle Welt noch für unheilbar hielt. So, wie ich niemandem außer einigen Freunden, man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen, anvertraut hatte, dass ich verurteilt war, so vertraute ich niemandem außer diesen wenigen Freunden an, dass ich davonkommen, dass ich, durch diesen unerhörten Glücksfall, weltweit einer der Ersten sein würde, die diese unerbittliche Krankheit überleben.
Heute, da ich dies Buch beginne , am 26. Dezember 1988, in Rom, wohin ich allein gefahren bin, gegen den Willen aller, auf der Flucht vor dieser Handvoll Freunde, die, um meine seelische Gesundheit besorgt, mich zurückzuhalten versuchten, am heutigen Feiertag, da alle Läden geschlossen haben und jeder Passant ein Ausländer ist, in Rom, wo mir endgültig klar wird, dass ich die Menschen nicht liebe, wo ich also, bereit zu allem, sie zu fliehen wie die Pest, nicht weiß, mit wem noch wohin ich essen gehen soll, mehrere Monate nach jenen drei Monaten, in denen ich mir nach bestem Wissen meiner Verurteilung sicher war, und nach den darauf folgenden Monaten, da ich dieses unerhörten Glücksfalls wegen glauben durfte, begnadigt zu sein, zwischen Zweifel und Hellsicht, mit der Mutlosigkeit wie auch mit der Hoffnung am Ende, weiß ich nicht, woran ich mich bei irgendeiner dieser entscheidenden Fragen oder bei dieser Alternative von Verurteilung und Begnadigung halten soll, weiß ich nicht, ob diese Rettung eine Falle ist, in die man mich wie in einen Hinterhalt gelockt hat, um mich zu beruhigen, oder wahrhaftig ein Science-Fiction-Abenteuer mit mir als einem der Helden, weiß ich nicht, ob es nicht lachhaft menschlich ist, an diese Gnade und an dies Wunder zu glauben. Ich ahne die Architektur dieses neuen Buchs, das ich all die vergangenen Wochen in mir zurückgehalten habe, aber seinen Verlauf von Anfang bis Ende kenne ich nicht, ich kann mir mehrere Möglichkeiten vorstellen, wie es ausgeht, die im Augenblick sämtlich schlimmen Vorahnungen oder einem Wunschdenken entspringen, doch der Zusammenhang seiner Wahrheit ist mir noch verborgen; ich sage mir, dass dies Buch seine Existenzberechtigung aus nichts anderem bezieht als aus jenem schmalen Rest von Ungewissheit, der allen Kranken der Welt gemeinsam ist.
Ich bin allein hier , und man bemitleidet mich, man ist um mich besorgt, man findet, ich schade mir, jene Freunde, die man, wie Eugénie meint, an den Fingern einer Hand abzählen kann, rufen mich regelmäßig voll Mitgefühl an, mich, der ich gerade entdeckt habe, dass ich die Menschen nicht liebe, nein, ich liebe sie entschieden nicht, ich hasse sie, und das könnte alles erklären, diesen von jeher zähen Hass, ich beginne ein neues Buch, um einen Gefährten zu haben, einen Gesprächspartner, jemanden, mit dem ich essen und schlafen, neben dem ich träumen und Alpträume haben kann, der einzige noch erträgliche Freund. Mein Buch, mein Gefährte, das ursprünglich, vom Vorsatz her, so streng sein sollte, hat schon begonnen, mich nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, obgleich doch dem Anschein nach ich der unumschränkte Kapitän auf dieser Sichtfahrt bin. Ein Teufel hat sich in meinen Schiffsbauch eingeschlichen: T. B. Ich habe aufgehört, ihn zu lesen, um die Vergiftung aufzuhalten. Es heißt, jede erneute Einspritzung des Virus durch Flüssigkeiten, Blut oder Sperma, greife den schon infizierten Kranken erneut an, man behauptet das vielleicht, um den Schaden zu begrenzen.
Der Zerstörungsprozess , der in meinem Blut begonnen hat, greift von Tag zu Tag weiter um sich und lässt meinen Fall zurzeit als Leukopenie erscheinen. Die jüngste Analyse, sie stammt vom 18. November, gibt mir 368 T4-Zellen, ein Mann verfügt bei guter Gesundheit über rund 1000 bis 1300 davon. Die T4-Zellen sind jene Gruppe weißer Blutkörperchen, die das Aids-Virus hauptsächlich angreift und wodurch der Immunschutz nach und nach geschwächt wird. Die schwersten Attacken, die Pneumocystis, welche die Lungen, und die Toxoplasmose, welche das Hirn befällt, schalten sich im Bereich unter 200 T4-Zellen ein; mittlerweile verzögert man sie mittels Verschreibung von AZT. Zu Beginn der Geschichte von Aids nannte man die T4-Zellen „the keepers“, die Hüter, und die T8-Zellen, eine andere Fraktion der Leukozyten, „the killers“, die Mörder. Vor dem Auftauchen von Aids hatte ein Erfinder von Computerspielen das Umsichgreifen der Krankheit im Blut vorgezeichnet. In seinem Spiel für Jugendliche erschien das Blut auf dem Bildschirm als Labyrinth, in dem der Pac-Man umherschweift, ein gelber, von einem Hebel gesteuerter Shadok, der im Vorbeigehen alles frisst, die verschiedenen Gänge von Plankton leert und dabei zugleich von immer zahlreicher umherwimmelnden roten, noch gefräßigeren Shadoks bedroht wird. Wollte man das Pac-Man-Spiel, das sich einige Zeit gehalten hat, bevor es aus der Mode kam, auf Aids übertragen, so bildeten die T-Zellen die Urbevölkerung des Labyrinths, die T8-Zellen wären die gelben Shadoks, bedrängt von HIV, dies wiederum durch die roten Shadoks verkörpert, die danach gieren, mehr und mehr Immunplankton zu vertilgen. Lange bevor die Untersuchungen mir die Gewissheit meiner Erkrankung bestätigten, hatte ich das Gefühl, mein Blut sei plötzlich freigelegt, entblößt, als sei es immer von einem Kleidungsstück oder einer Kapuze beschützt worden, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, da es selbstverständlich war, und als habe etwas, ich begriff nicht was, diesen Schutz entfernt. Ich musste fortan mit bloßgelegtem, ausgesetztem Blut leben, wie der entkleidete Körper einen Alptraum durchqueren muss. Mein Blut war entlarvt, überall, allerorten und für immer, es sei denn, unwahrscheinliche Transfusionen würden ein Wunder bewirken, mein Blut war nackt zu jeder Zeit, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn ich auf der Straße ging, war unablässig von einem Pfeil bedroht, der zu jeder Zeit auf mich zielte. Sieht man es den Augen an? Meine Sorge ist weniger, ob ich mir einen menschlichen Blick bewahren kann, sondern ob mein Blick womöglich allzu menschlich wird, wie jener der Gefangenen in NACHT UND NEBEL, dem Dokumentarfilm über die Konzentrationslager.
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