Ich spürte das Nahen des Todes im Spiegel , in meinem Blick im Spiegel, schon lange bevor er sich in ihm wirklich festgesetzt hatte. Trieb ich diesen Tod schon mit meinem Blick in die Augen der anderen? Ich habe es nicht allen gesagt. Bis jetzt, bis zum Buch, hatte ich es nicht allen gesagt. Wie Muzil hätte ich gern die Kraft gehabt, den unsinnigen Stolz und auch die Großmut, es überhaupt niemandem zu sagen, um die Freundschaften frei wie die Luft leben zu lassen und sorglos und ewig. Doch wie soll das gehen, wenn man erschöpft ist und es der Krankheit gelingt, sogar die Freundschaft zu bedrohen? Einigen habe ich es gesagt: Jules, dann David, dann Gustave, dann Berthe, Edwige wollte ich es nicht sagen, doch ich spürte schon beim ersten Frühstück, wie das Schweigen und die Lüge sie grauenhaft weit von mir entfernten, und dass, würden wir uns nicht augenblicklich wieder der Wahrheit unterordnen, es unwiederbringlich zu spät sein würde, also habe ich es ihr gesagt, um treu zu bleiben, ich habe es unter dem Druck der Ereignisse Bill sagen müssen, und mir schien es, als verliere ich im selben Augenblick alle Freiheit und alle Kontrolle über meine Krankheit, und dann habe ich es Suzanne gesagt, denn sie ist so alt, dass ihr vor nichts mehr graut, sie hat niemals jemanden geliebt außer einem Hund, um den sie an dem Tag weinte, als sie ihn ins Tierheim abschob, Suzanne, die dreiundneunzig Jahre alt ist und deren Lebenserwartung ich mit diesem Bekenntnis einholte, welches ihr Gedächtnis auch unwirklich werden lassen oder von einem Augenblick zum anderen auslöschen konnte, Suzanne, die ohne Weiteres bereit war, etwas so Ungeheures auf der Stelle zu vergessen. Ich habe es Eugénie nicht gesagt, ich esse mit ihr in der Closerie , sieht sie es mir an den Augen an? Ihre Gesellschaft langweilt mich mehr und mehr. Ich habe den Eindruck, nur noch zu Menschen interessante Beziehungen zu haben, die Bescheid wissen, alles ist null und nichtig geworden und zusammengebrochen, wertlos und reizlos, alles rings um diese Mitteilung, wenn ihr nicht mehr Tag um Tag freundschaftlich begegnet wird, wenn mein Sträuben mich im Stich lässt. Es meinen Eltern sagen, das hieße mich dem aussetzen, dass mir die ganze Welt im selben Augenblick die Fresse zuscheißt, es hieße, mir von allen Arschlöchern dieser Erde die Fresse vollscheißen, mir die Fresse mit ihrer stinkenden Scheiße zukacken zu lassen. Meine allererste Sorge in dieser Geschichte ist, vor den Blicken meiner Eltern geschützt zu sterben.
Es wurde mir einfach so klar , und ich sagte es Dr. Chandi, sobald er die Entwicklung des Virus in meinem Körper zu verfolgen begann, Aids ist nicht wirklich eine Krankheit, und es als eine solche zu bezeichnen, vereinfacht die Dinge, sondern es ist ein Zustand von Schwäche und Ergebung, welcher dem Tier, das man in sich trug, den Käfig öffnet, dem Tier, dem ich gezwungenermaßen unumschränkte Vollmacht gebe, damit es mich verschlingt, ich muss mir lebendigen Leibes antun lassen, was an meinem Leichnam zu tun es sich anschicken würde, um ihn zu zersetzen. Die Pneumozystis-Pilze, würgende Boas für Lunge und Atem, und die Toxoplasmose-Erreger, die das Hirn zerrütten, leben im Inneren jedes Menschen, nur verwehrt ihnen das Gleichgewicht seines Immunsystems schlicht und einfach das Bürgerrecht, während Aids ihnen grünes Licht gibt und die Schleusen der Zerstörung öffnet. Ohne Wissen um die Zähigkeit dessen, was ihn zerfraß, hatte Muzil es im Krankenhausbett ausgesprochen, bevor die Forscher es entdeckten: „Das Ding ist wohl aus Afrika herübergekommen.“ Aids, das aus dem Blut der grünen Meerkatzen stammte, ist eine Krankheit von Zauberern, von Hexern.
Dr. Chandi , den ich seit mindestens einem Jahr konsultierte, nachdem ich Dr. Nacier, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, verlassen hatte, ich hatte ihn der Indiskretion bezichtigt, weil er über die mehr oder weniger hängenden Eier einiger berühmter Patienten tratschte, in Wahrheit aber nahm ich ihm noch viel stärker übel, dass er, als er bei mir die Gürtelrose diagnostizierte, bemerkte, man könne bei HIV-positiven Patienten mit zunehmender Häufigkeit diese erneute Äußerung des Windpocken-Virus feststellen, während ich bis dahin den Test verweigert und seit Jahren in irgendwelchen Schubladen seine diversen, auf meinen eigenen oder auf Decknamen ausgestellten Rezepte für den Test zum Nachweis des Aids-Virus gesammelt hatte, das zuerst LAV, dann HIV genannt wurde, unter dem Vorwand, das hieße ein ohnehin unruhiges Gemüt wie mich in den Selbstmord zu treiben, überzeugt wie ich war, das Ergebnis des Tests zu kennen, ohne ihn überhaupt durchführen zu müssen, schön klarsichtig oder schön genasführt, und zugleich der Ansicht, die mindeste Verantwortung bestehe darin, sich bei Intimkontakten, die wohl mit dem Alter seltener würden, wie ein Infizierter zu verhalten, in Phasen der Hoffnung insgeheim mit dem Hintergedanken, dies sei auch das Mittel, sich selbst zu schützen, doch stets darauf beharrend, der Test sei zu nichts nutze, als die Unglückseligen in die schlimmste Hoffnungslosigkeit zu stürzen, solange noch kein Heilmittel gefunden sei, genau das hatte ich meiner Mutter entgegnet, der grässlichen Egoistin, die mich in einem Brief gebeten hatte, ihr diese Sorge zu nehmen, Dr. Chandi, der praktische Arzt, zu dem ich jetzt also ging und den Bill mir empfohlen hatte, indem er seine Verschwiegenheit rühmte und dabei sogar ausdrücklich zu verstehen gab, ein gemeinsamer Freund, der an Aids erkrankt sei, befinde sich bei ihm in Behandlung, wodurch mir sofort klar war, um wen es sich handelte, und den die unbedingte Verschwiegenheit des Arztes, trotz des Bekanntheitsgrades seines Patienten, bislang vor der Gerüchteküche bewahrt habe, unterzog mich jedesmal, wenn er mich untersuchte, in derselben Reihenfolge denselben Prozeduren: Nachdem er mir wie üblich den Blutdruck gemessen und mich abgehört hatte, inspizierte er die Fußsohlen und die Hautritzen zwischen den Zehen, zog dann behutsam den Ausgang der besonders empfindlichen Harnröhre auseinander, dann erinnerte ich ihn, nachdem er mir die Leistengegend, den Bauch, die Achselhöhlen und den Hals unter dem Kiefer abgetastet hatte, daran, dass es zwecklos sei, mir das helle Holzstäbchen hinzuhalten, mit dem meine Zunge seit meiner Kindheit jede Berührung beharrlich verweigert, und dass ich es vorzöge, den Mund bei der Annäherung des Lichtkegels sehr weit zu öffnen und durch eine Kontraktion der Rachenmuskeln das Zäpfchen ganz nach hinten an den Gaumen zu drücken, doch Dr. Chandi vergaß jedesmal, wie viel leichteren Zugang ihm das verschaffte als das glatte, mit mentalen Splittern gespickte Stäbchen, er hatte im Verlauf der Untersuchung nicht nur das Gaumensegel inspiziert, sondern hatte auch, und zwar recht nachdrücklich, als läge es fortan bei mir, durch stete eigene Beobachtung zu kontrollieren, ob sich in dieser Region ein deutliches Zeichen für die Entfaltung der unheilvollen Krankheit eingenistet hat, aufmerksam den Zustand der Schleimhaut in Augenschein genommen, die das oft bläulich oder lebhaft rot gefärbte Gewebe umkleidet, welches die Zunge mit dem Bändchen verbindet. Indem er dann meinen Hinterkopf mit der einen Hand festhielt und Daumen und Zeigefinger der anderen mit starkem Druck mitten auf die Stirn presste, fragte er mich, ob das schmerze, und beobachtete dabei die Reaktionen meiner Iris. Er beschloss die Untersuchung, indem er sich erkundigte, ob ich letzthin häufige, andauernde Durchfälle gehabt hätte. Nein, alles war in Ordnung, dank der Einnahme von Trophisan-Ampullen auf Glycolbasis hatte ich mein Gewicht aus der Zeit vor der Abmagerung während der Gürtelrose wiedererlangt, nämlich siebzig Kilo.
Bill war es , der mir als Erster von der sagenhaften Krankheit erzählte, ich würde sagen, 1981. Er war gerade aus den Staaten zurückgekehrt, wo er in einer Fachzeitschrift die ersten klinischen Berichte über Todesfälle mit dieser eigentümlichen Vorgeschichte gelesen hatte. Er selber sprach davon wie von einem Mysterium, realistisch und skeptisch. Bill ist Manager eines großen Pharmalabors, in dem Impfstoffe produziert werden. Als ich anderntags unter vier Augen mit Muzil zu Abend aß, berichtete ich ihm von der alarmierenden Nachricht, die Bill herumerzählte. Er ließ sich, von einem Lachanfall gekrümmt, vom Sofa fallen: „Ein Krebs, der ausschließlich Homosexuelle trifft, nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein, das ist zum Totlachen!“ Der Zufall wollte, dass Muzil zu dem Zeitpunkt schon von dem Retrovirus befallen war, dessen Inkubationszeit, Stéphane hat es mir kürzlich erzählt, man weiß es mittlerweile, verbreitet die Tatsache aber nicht, um nicht unter den Tausenden von Positiven Panik zu säen, recht genau sechs Jahre betragen soll. Einige Monate, nachdem ich bei Muzil jenen Lachanfall ausgelöst hatte, fiel er in eine schwere Depression, es war Sommer, ich bemerkte am Telefon seine veränderte Stimme, von meinem Appartement aus beobachtete ich verzweifelt den Balkon meines Nachbarn, so hatte ich, ohne dass es bemerkt worden wäre, Muzil ein Buch gewidmet, „Meinem Nachbarn“, bevor ich dann das folgende „Dem toten Freund“ widmen musste, ich befürchtete, er werde sich von diesem Balkon stürzen, ich spannte unsichtbare Netze von meinem Fenster zu seinem, um ihm zu Hilfe zu kommen, mir war unbekannt, woran er litt, doch hörte ich an seiner Stimme, dass es schlimm war, ich erfuhr später, dass er es niemandem anvertraute außer mir allein, er sagte mir an jenem Tag: „Stéphane krankt an mir, endlich habe ich begriffen, dass ich Stéphanes Krankheit bin und es sein Leben lang bleiben werde, was ich auch anstelle, es sei denn, ich verschwinde; das einzige Mittel, ihn von seiner Krankheit zu heilen, da bin ich sicher, wäre, mich umzubringen.“ Doch da waren die Würfel schon gefallen.
Читать дальше