1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Eine theoretische Erklärung für das Erleben der Zeitlosigkeit liefert die holonome Theorie, die von Karl Pribram und David Bohm auf der Grundlage der Quantenphysik entwickelt wurde. Danach ist das Erleben von Zeitlosigkeit als Resultat des Zugangs zur »spectral domain« (Pribram, 1991, S. 272–273) zu interpretieren; in diese Domäne sind Zeit und Raum »eingefaltet« (Bohm, 1998; Weber, 1987). In jüngerer Zeit gibt es Untersuchungen zu hirnphysiologischen und möglicherweise genetischen Grundlagen eines solchen Zustands (z. B. Hamer, 2004, Ott, 2010).
»Gelassener werden« aus Sicht des Psychotonusmodells
Im Rahmen des Psychotonusmodells lässt sich Gelassenheit definieren als ein mentaler Zustand auf PT-Stufe 4 oder niedriger. Im Einzelfall kann Gelassenheit bedeuten:
• Alltagswachbewusstsein (PT-4): in der Lage zu sein, ohne sonderlich große Anstrengung willentlich zu handeln – wie Beispiel 1 (s. oben) eindrucksvoll belegt,
• beginnende Entspannung bzw. Versenkung (PT-3) Flow-Erleben (PT-2): im Tun aufgehen oder in etwas versunken sein (s. Beispiel 2)
• Absolute innere Ruhe (PT-1), wie sie einige Menschen gelegentlich erleben (s. Beispiel 3).
Im Folgenden wird der Begriff der Gelassenheit in erster Linie situationsbezogen verwendet werden. Ein Individuum ist mehr oder weniger gelassen in Bezug auf eine bestimmte Situation: ein bevorstehendes Gespräch, die Erinnerung an eine peinliche Situation oder die Vorstellung zu fliegen. Ziel der Introvision ist zunächst eine Zunahme an situationsspezifischer Gelassenheit – zum Beispiel die Flugangst aufzulösen (
Kap. 6
) (state-spezifische Gelassenheit). Mit zunehmender Anwendung von Introvision nimmt allmählich auch das Ausmaß der Gelassenheit zu; auf diese Weise kommt es dann auch zu einer generellen Zunahme an Gelassenheit (»trait«).
1.2 Gelassener werden durch Introvision: eine einführende Übersicht
Im Folgenden soll für eilige Leser und Leserinnen eine kurze einführende Übersicht über das Vorgehen der Introvision gegeben werden.
Gelassenheit als Folge des Unter-Lassens
Die Introvision geht von der Annahme aus, dass Gelassenheit im Prinzip eine Folge des Unter-Lassens ist. Das Wort »gelassen« bedeutet ursprünglich »etwas unterlassend«. Es stammt von dem mittelhochdeutschen Verb »gelâzen« ab, das soviel bedeutet wie etwas »(er-), (ver-), (unter-)lassen« (Duden, 1989).
Aus Sicht der TMI ist Gelassenheit die Folge des Unter-Lassens des introferenten Eingreifens in vorhandene Kognitionen durch Überschreiben, Verzerren und Ausblenden; dabei werden die betroffenen Kognitionen gezielt mit erhöhter Erregung, Anspannung bzw. Hemmung gekoppelt. Hört dieses introferente Eingreifen auf, so stellt sich Gelassenheit ein. Genauer gesagt: Hört das automatisierte introferente Eingreifen in bestimmte inhaltliche Kognitionen auf (z. B. bei Prüfungsangst), so wird das Individuum in der entsprechenden Situation – hier also bei der Prüfung – wieder gelassen.
Ein Fallbeispiel: Probleme mit dem Lernen für eine Klausur
Wie sich dieses praktisch umsetzen lässt, soll im Folgenden an einem Fallbeispiel veranschaulicht werden.
Stellen wir uns eine Studentin vor, die große Schwierigkeiten hat, sich auf eine Klausur vorzubereiten. Sie neigt dazu, die Arbeit dafür so lange vor sich herzuschieben, wie es irgend geht, und dann ein paar Nächte lang »durchzulernen«, mit dem Ergebnis, dass ihre Noten nur mittelmäßig sind. Sie besucht einen Einführungskursus in Introvision und hofft, dass ihr dies helfen wird, früher mit dem Lernen anzufangen und beim Lernen innerlich ruhiger zu sein. Was sie theoretisch in diesem Kursus lernt, wird in den folgenden Kapiteln ausführlich beschrieben werden. An dieser Stelle soll in erster Linie gezeigt werden, welche Möglichkeiten diese Studentin praktisch mit auf den Weg bekommt, um erstens im Alltag generell gelassener zu bleiben und zweitens Introvision auf ihr konkretes Problem anzuwenden.
1.2.1 Den Kopf wieder freibekommen: Zur Vorbereitung: »Pakete packen« als Anfänger-Übung
Zur Vorbereitung auf die Introvision lernt sie als Anfängerin zunächst eine Übung von Gendlin (1981, S. 48–49 und pers. Kommunikation) anzuwenden, die ihr helfen soll, ihren Arbeitsspeicher wieder freizubekommen. Ziel dieser vorbereitenden Übung ist es, all die Dinge, die sie in diesem Moment beschäftigen, sozusagen geistig beiseitezulegen.
»Erst einmal Pakete packen«
Ausgangsfrage ist: »Wie fühle ich mich? Was hält mich davon ab, mich in diesem Moment rundum wohlzufühlen? Was belastet mich im Moment?«
• Nennen Sie die einzelnen Probleme, die Ihnen jetzt dabei in den Sinn kommen, kurz (»Aha, das ist das XY-Problem«), ohne sie näher zu betrachten – so wie Sie im Alltag einzelne Dinge auf einer »Erledigungsliste« kurz notieren.
• Dann stellen Sie sich vor, dass Sie jedes einzelne Problem in ein Paket packen und anschließend diese Pakete an einem bestimmten Ort ablegen – zum Beispiel in einem Regal oder in einer Kiste. Gegebenenfalls verbinden Sie das mit dem (Selbst-)Versprechen, dass Sie sich mit einem bestimmten Problem zu einem festgelegten Zeitpunkt (z. B. »Heute nachmittag um 16 Uhr«) befassen werden.
• Treten Sie dann innerlich einen Schritt zurück und betrachten Sie »die Pakete« aus einer gewissen Distanz heraus.
• Wenn Sie mögen, können Sie Papier und Bleistift neben sich legen und sich die einzelnen Dinge auch kurz notieren.
Viele Menschen finden diese Übung in der heutigen Zeit der Informationsüberflutung nützlich, um auf diese Weise den Kopf für das freizubekommen, was gerade ansteht. Manche Lehrer und Lehrerinnen führen diese Übung zu Beginn des Unterrichts mit ihren Schülerinnen und Schülern durch. Mit zunehmender Erfahrung in KAW lernt sie, stattdessen ihr Lieblings-KAW anzuwenden bzw. einen »Screenshot« durchzuführen (s. KAW-Anwendung,
Kap. 3.4
).
Wenn diese Übungen nicht helfen, liegt vermutlich ein akuter Konflikt vor – ein Fall für die Anwendung der Introvision (s. unten).
1.2.2 Mentale Entspannung im Alltag: das Konstatierende Aufmerksame Wahrnehmen (KAW)
Als Nächstes lernt sie die Methode des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens anhand von vier Übungen (
Kap. 3
), die sie mehrere Wochen lang täglich zu Hause oder unterwegs durchführt. Ziel dieser Übungen ist es, ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet, das Zentrum der Aufmerksamkeit ein Weilchen lang konstatierend und weitgestellt auf bestimmte Kognitionen zu richten, ohne in diese – reflexhaft und häufig auch unbemerkt – nach Möglichkeit erneut einzugreifen. Konstatierend bedeutet feststellend, im Sinne von »Aha, so ist das«.
In den ersten KAW-Übungen geht es darum, verschiedene Arten von Kognitionen aufmerksam konstatierend wahrzunehmen, einen Baum, Vogelzwitschern, Alltagsgeräusche, die Berührung der Füße mit dem Boden. Anschließend lernt sie, durch Weitstellen der Aufmerksamkeit sich kurzfristig mental zu entspannen und das Zentrum von affektiven Reaktionen (angenehm-unangenehm) zu finden.
Diese Übungen wendet sie regelmäßig beim Lernen an. Zur Vorbereitung führt sie zunächst ihre Lieblings-KAW-Übung durch, um sich kurz mental zu entspannen.
Dann beginnt sie mit dem Lernen. Dabei wendet sie zunächst einmal fünf Minuten lang »KAW auf die Ausgangsfrage« an, mit der sie an den Text herangeht, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass das ihr Lernen deutlich verbessert – das, was sie dann danach liest, kann sie schneller und zugleich tiefer verarbeiten (Elaboration). Entscheidend ist dabei, dass die Aufmerksamkeit konstatierend bleibt – und wie das geht, hat sie im Kurs gelernt. Am Ende der Lernphase wendet sie dieses KAW noch einmal auf das Gelernte an, indem sie das, was sie beim Lernen gelesen, gedacht, entdeckt hat, vor ihrem inneren Auge konstatierend Revue passieren lässt. Im Kurs hat sie auch gelernt, warum: Aus Sicht der TMI (Theorie der Mentalen Introferenz) ist dies eine Methode, um die epistemische Informationsverarbeitung möglichst optimal – d. h. ungehindert durch bewusstes (zusätzliches) introferentes Eingreifen (
Kap. 2
) – weiterarbeiten zu lassen.
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