Unberührte Natur
Das sind die schönen Momente, welche man auf solch einer Pilgerreise erleben darf. Ich wünsche ihr alles Gute, und wir winken uns noch lange zu, bis wir uns nicht mehr sehen. Ich wollte nicht aufdringlich sein, sonst hätte ich ihre Mutter, welche drei Bänke weiter saß, gefragt, ob ich ein Foto von ihrer Tochter machen darf.
Bald erreiche ich wieder den See und bin überraschenderweise in einer herrlichen Naturlandschaft. Durch einen Wald stoße ich auf einen kleinen Wildbach und überquere diesen über eine Brücke an einem Wehr. Ein wunderbarer Wanderweg in fast unberührter Natur, unter schattigen Bäumen. Das ist ein Pilgerauftakt, wie ich ihn mir gewünscht, aber hier am dicht besiedelten Genfersee nicht erwartet habe. Vorbei an Kiwiplantagen, die hätte ich hier auch nicht erwartet, komme ich wieder zurück in die Zivilisation und steige einen sanften Hügel entlang ausgedehnter Weinberge hinauf in das kleine Weinbauerndorf Perroy.
Auf halber Höhe sehe ich schon von Weitem jemand auf dem Boden sitzen, und beim Näherkommen entdecke ich Rucksack und Pilgerstab. Es ist ein junger Schweizer Pilger, Tamino heißt er, auf dem Weg nonstop bis Santiago. Er schenkt mir ein 4-blättriges Kleeblatt, welches in dem Moment, an dem ich daheim diese Zeilen schreibe, getrocknet auf meinem Schreibtisch liegt.
In Perroy erreiche ich die Kirche und stelle mit Entzücken fest, dass vor dem Kirchentor ein Verkaufsstand mit Kaffee, Kuchen und diversen Kaltgetränken aufgebaut ist. Sehr gerne nehme ich das Angebot an und genieße die unerwarteten Köstlichkeiten. Es ist ein Wettbewerb für kleine Bläsergruppen, und in der Kirche findet bei einem Konzert die Bewertung statt. Begeistert und voller Stolz wird mir alles rund um diese kleine Veranstaltung erzählt. In mir werden Erinnerungen wach an die Zeit, in der ich selbst bei unserem Musikverein bei solchen Veranstaltungen mitgemacht habe. Musikalisch und auch als Helfer.
Zufrieden schlendre ich durch diesen schönen Ort. Wunderschöne Häuser, Malereien an den Wänden und überdimensionale Weinflaschen auf dem Hof mit Werbung und dem Hinweis auf eine Weinverköstigung. Hier könnte ich es länger aushalten. Hier fühle ich mich herzlich eingeladen.
Wieder durch die Weinberge geht es hinunter in das kleine Städtchen Rolle. Am Strand des Genfersees herrscht ein gar lustiges Treiben. Sonnenbaden, Federballspiel, Duft von gegrilltem Fleisch und Würstchen. Überall fröhliche Stimmen, Singen und Lachen.
Entspannt erblicke ich die Stadtpromenade mit der Anlegestelle der Schiffe. Vorbei an einem Café kommt jemand von der Terrasse auf mich zugerannt und will mich auf einen Kaffee und einen Drink einladen. Ich bedanke mich höflich, ziehe aber die Ruhe auf einer Parkbank vor. Solche Begegnungen sind sehr herzlich, aber wegen der unterschiedlichen Sprachen mitunter auch sehr anstrengend. Und das kann ich jetzt im Moment gerade nicht gebrauchen. Ich genieße einen Apfel und beobachte Spaziergänger, verliebte Paare, geruhsame Rentner und energiegeladene Kinder mit ihren Eltern und Großeltern.
Auch Tamino, der junge Schweizer Pilger, kommt gemütlich an und lässt sich neben einem großen Baum auf der Wiese nieder. Er packt seinen Rucksack aus und richtet sich häuslich ein. Ich glaube, er bereitet schon sein Nachtlager vor.
Schiff, Rolle
Nach kurzer Wartezeit fährt schon mein Schiff an der Anlegestelle ein, und ich freue mich auf eine mehr als zweistündige Schifffahrt über den See ins französische Yvoir, dann zurück ans Schweizer Ufer und weiter nach Genf. In Nyon besteigen zwei Pilgerpaare das Schiff. Sie stammen aus Sand in Franken und sind in Fribourg gestartet, sind also schon einige Tage auf Tour.
Entlang der Vororte und Parkanlagen geht es in das Zentrum von Genf. Schon von Weitem sieht man den berühmten Jet d’eau mit seiner über einhundertvierzig Meter hohen Wasserfontäne. Es ist atemberaubend, mit dem Schiff hier vorbei zur Anlegestelle am Quai Mont-Blanc zu fahren. Vorbei an Nobelhotels wie dem Kempinski oder dem Hotel Beau-Rivage Genève, in dem man leicht mal über 2.000 € für eine Nacht bezahlen darf.
Ich habe heute mal ausnahmsweise auf diese Annehmlichkeiten verzichtet und mir als Pilger standesgemäß im Home St. Pierre bei der Kathedrale ein Bett in der Männerherberge reserviert. Vom Schiff zehn Minuten durch die Altstadt, und schon habe ich mein Domizil erreicht. Ich werde ganz herzlich willkommen geheißen, und mein Bett in der neu renovierten Herberge ist sehr bequem. Wir sind nur zu dritt, so ist es angenehm ruhig.
Jet d’eau
Einen kleinen Abendspaziergang genieße ich im Trubel dieser internationalen Stadt. Am Seeufer gibt es nicht nur Luxushotels, sondern auch unzählige Geschäfte mit Luxusartikel aller bekannten Luxusmarken wie Rolex, Chanel und dergleichen.
Sehr erfreulich ist jedoch, dass ich auf Empfehlung der Herbergsdame eine kleines, charmantes Lokal inmitten der Altstadt finde, in dem ich herrliche Poulardenschlegel mit Kartoffeln Provence und buntem Salat für 15,90 CHF, nach Tageskurs ca. 13,80 €, genießen darf. Und ein gutes Glas Bier haben sie auch noch. Das war ein richtiger Geheimtipp. Danke!
29. Pilgertag, Sonntag, 29.04.2018
Genf–Le Mont Sion: 26 km, Gesamt: 627 km
Muschelzeichen
Sehr früh mache ich mich frisch, packe meinen Rucksack und starte bereits um 7.00 Uhr meine heutige Tagesetappe. Draußen ist es noch frisch, aber vor allem ruhig. Sonntagfrüh um 07.00 Uhr, da ist die Stadt noch wie ausgestorben. Ich finde gleich meinen Weg und folge immer der Muschelmarkierung. Gleich unterhalb der Kathedrale erkenne ich das Haus am Place du Bourg-de-Four, an dem eine Jakobsmuschel alle Pilger grüßt.
Diese Muschel ist in fast allen Reiseführern abgebildet. Ab heute auch in meinem Reisetagebuch verewigt. Es ist immer wieder schön, wenn man auf so einer Pilgerwanderung Orte entdeckt, die man schon daheim aus dem Studium des Reiseführers kennengelernt hat.
Eine offensichtlich unfreiwillig verlassene junge Dame, für die Tageszeit etwas leicht bekleidet und offensichtlich noch etwas leicht alkoholisiert, lässt ihrer Stimmung am Handy lauthals Luft und verdankt ihr Leben eigentlich nur der Tatsache, dass auf den Kreuzungen entweder gar kein Auto kommt und wenn doch, dass die Fahrer ausgeschlafen sind und auch bei Grün anhalten, weil die Dame bei Rot heulend und lauthals ins Handy flehend, bittend und schimpfend dahinschreitet.
Ich komme jetzt auch durch Gassen und Straßen, in denen ich mich ehrlich gesagt bei Nacht nicht wohlfühlen würde, gelinde gesagt …
Nachdem ich aber die Brücke von einem Zufluss der Rhône überquert habe, erreiche ich den malerischen Vorort Carouge. Hier ist es wieder gemütlich. Ich fühle mich wie in Grinzing in Wien. Schöne kleine bunte Häuser, eine Straßenbahn, und dann erblicke ich eine Bäckerei mit einer kleinen Terrasse. Ich freue mich schon auf eine Tasse Kaffee. Die hat es in der Herberge leider nicht gegeben. Dafür genieße ich sie jetzt in der wärmenden Sonne umso mehr.
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