Im Intergouvernementalismus wird streng zwischen dem innerstaatlichen und dem internationalen System unterschieden, eine Verflechtung der Ebenen oder die Charakterisierung der Europäischen Union als politisches System mit staatsähnlichen Strukturen wird nicht anerkannt (Peters 2001: 199). In diesem Verständnis wird die Vertragsgemeinschaft als Staatenverbund gesehen; eine internationale Organisation die von ihren Mitgliedstaaten und deren politischer Legitimation abhängig bleibt (Kirchhof 2012: 876ff., Rn 43ff.). Diese Charakterisierung der Europäischen Union ist durch die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt worden:
Die EU ist ein Verbund, „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – d.h. die Staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. (BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon)
Als wichtigste Akteure gelten die Mitgliedstaaten, die ihre Präferenzen aufgrund ihrer nationalen Interessen bilden und in den intergouvernementalen Prozess einbringen. Der Integrationsprozess wird solange aufrechterhalten, wie das europäische Regieren effizienter ist als auf nationaler Ebene. Ein wesentliches Ziel der Integration ist demnach Effizienz.
Zu den Grundannahmen der Theorie zählt, dass Staaten als rationale Entitäten handeln, dass sie ihre nationalen Präferenzen innerstaatlich bilden und diese im intergouvernementalen Prozess aushandeln; supranationale Organen können in diesem Verständnis nicht wesentlich auf den Integrationsverlauf Einfluss nehmen (Craig 2011: 17).
Aufgrund der strikten Trennung der Ebenen spricht Andrew Morvacsik vom two-level-game (Moravcsik 1993: 514-517): In dieser Argumentation erfolgt die Verlagerung von nationaler Souveränität auf europäische Ebene aus dem Kalkül, dass sich die Staats‑ und Regierungschefs gegenüber der Opposition im Heimatstaat unabhängig machen. Zusammenarbeit erfolgt entweder durch die Zusammenlegung von Souveränitätsrechten auf europäischer Ebene ( pooling ) oder die tatsächliche Abgabe an die europäischen Institutionen ( delegation ). Beide Souveränitätsabgaben bergen nach intergouvernementaler Logik Risiken und Chancen (Moravcsik 1993: 507-514).
Durch delegation wird Entscheidungsfindung effizienter. Im europäischen System wurden bereits in der Montanunion Aufgaben an die Hohe Behörde (später: Europäische Kommission) delegiert. Das Risiko besteht jedoch darin, dass Entscheidungen entgegen individueller nationaler Interessen in Kauf genommen werden müssen. Demgegenüber bleiben die Mitgliedstaaten in Person ihrer Minister an solchen Entscheidungsprozessen stärker beteiligt, bei denen die Kompetenzen lediglich zusammengelegt wurden. Auch hier sind im Einzelfall Beschlüsse gegen die Positionen einzelner Staaten möglich (Beispiel: Mehrheitsentscheidungen im Rat), doch die Entscheidungen sind in der Praxis sehr stark am Konsensprinzip ausgerichtet und ermöglichen den Mitgliedstaaten deutlich mehr Einflussnahme (mehr dazu: Craig 2011: 18-19).
In dieser Lesart liegt die Kooperation bei der Binnengrenzpolitik im Interesse der Mitgliedstaaten. Das dahinter liegende Motiv ist die Verwirklichung der Grundfreiheiten des Marktes. Durch die Aufhebung der Binnengrenzkontrollen wird der gemeinsame Markt effizienter, was für alle Beteiligten einen Gewinn darstellen dürfte. Die dadurch implizierte Vergemeinschaftung der Außengrenzen ist solange im Interesse aller, wie die Grenzsicherung durch die jeweiligen Außengrenzstaaten effizient abgesichert ist. Kommt es jedoch zu erheblichen Defiziten und damit zu Rückwirkungen auf den europäischen Raum insgesamt, stellt sich die Vergemeinschaftung der Außengrenzen als Risiko dar.
Die Grenz‑ und Asylpolitik ist sehr stark von pooling gekennzeichnet. Der Lissabonner Vertrag ermöglichte die geteilte Komptenz in Grenz‑ und Asylangelegenheiten. An Gesetzgebungsprozessen sind die Mitgliedstaaten stark beteiligt und letztlich bleiben die Mitgliedstaaten für die Grenz‑ und Asylpolitik selbst verantwortlich, was nicht zuletzt an den Defiziten der Rechtsharmonisierung sichtbar ist. Delegation ist in sehr begrenztem Maße bei der Auslagerung von Grenzschutzaktivitäten an die Agentur Frontex und das Monitoring zu Asylanfragen in der Agentur für Aslyfragen zu beobachten.
Aus welchen nationalen Präferenzen lässt sich hingegen die schrittweise Vergemeinschaftung erklären? Die teilweise Vergemeinschaftung der Grenz‑ und Asylpolitik bedeutet innenpolitisch die Möglichkeit, unangenehme Politikentscheidungen der Grenz‑ und Asylpolitik nach Brüssel schieben zu können. In dieser Lesart wird das two-level-game als bewusstes blame-shifting analysiert. Demnach engagierten sich die Justiz‑ und Innenminister für eine teilweise Verlagerung ihrer Ressorts auf die europäische Ebene, um unliebsame Entscheidungen und die negativen Reaktionen darauf ebenfalls auf die europäische Ebene zu verschieben (so argumentiert: Guiraudon 2000, ähnlich: Parkes 2010, anders: Kaunert und Léonard 2012, Ripoll Servent und Trauner 2014, Trauner und Ripoll Servent 2016). Doch ist diese Erklärung hinreichend? Immerhin beinhaltet die Verlagerung auf europäische Ebene das erhebliche Risiko, politische Entscheidungen umsetzen zu müssen, die den nationalen Interessen widersprechen.
Im Liberalen Intergouvernementalismus ist dieser stufenweise Prozess der Effizienz europäischer Entscheidungen geschuldet und der Möglichkeit nationaler Regierungen, durch gemeinsame Politik auf europäischer Ebene gegenüber nationalen politischen Akteuren mehr Spielraum zu erlangen bzw. politische Verantwortung in unliebsamen Fragen zu delegieren.
2.3 Zusammenfassung und Literatur
Das Wichtigste in Kürze: Historische Grundlagen
Kernmotiv der europäischen Integration war der gemeinsame Markt. Als Kernprinzipien dieses Gemeinsamen Marktes fungierten die vier Grundfreiheiten (Warenverkehr, Personen, Dienstleistungen, Kapital). Wenn Waren, Personen und Dienstleistungen an der Grenze nicht halt machen sollen, dann brauchte es über kurz oder lang eine Überwindung der physischen Grenzen, die bisher an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten die Ein‑ und Ausreise von Personen und Waren kontrollierten. Eine solche Abschaffung der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten führte dazu, dass die Außengrenzen einzelner Mitgliedstaaten zu Außengrenzen aller Mitgliedstaaten des Wirtschaftsraums wurden. Daraus erwuchs eine funktionale wie politische Notwendigkeit zur Übereinkunft über Krtierien bei Grenzschutz, Einreise- und Asylgewährung.
Die Grenz‑ und Asylpolitik wuchs aus diesen Wirkungszusammenhängen im Zuge der Schengener Kooperation in den Rechtskorpus der Europäischen Union hinein. Mit dem Ziel der Personenfreizügigeit im Gemeinsamen Markt gab es bereits seit den Gründungsverträgen von (1958) ein Vertragsziel, das die Abschaffung der Grenzkontrollen an den Grenzen der teilnehmenden Staaten anvisierte. Doch erst mit der Unterzeichnung des Schengener Abkommens im Juni 1985 wurde dieses Ziel Wirklichkeit. Zunächst schafften Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten die Kontrollen an ihren gemeinsamen Grenzen 1995 ab. Dadurch entwickelte sich ein gemeinsamer Raum ohne Binnengrenzen mit gemeinsamen Außengrenzen, weshalb Absprachen zum Umgang mit Einreise, Kurzaufenthalten und Asylfragen notwendig wurden. So entstanden Folgeabkommen, wozu das Dubliner Übereinkommen von 1990 zählte, das die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Asylanträge regelte und dessen Kriterien im Kern bis heute fortgeführt werden.
Der Vertrag von Maastricht (1993) überführte erste innen‑ und justizpolitische Bereiche in das Gemeinschaftsrecht und definierte Asylpolitik als gemeinsames Interesse. Mit dem Vertrag von Amsterdam (1999) wurden zum ersten Mal konkrete Mandate zur Rechtsetzung in der europäischen Innen- und Justizpolitik formuliert. Der Vertrag von Lissabon (2009) bestätigte dieses Mandat durch eine Ausweitung der Aufträge zur Rechtsetzung durch die europäischen Organe in den Bereichen Grenze, Asyl und Einwanderung.
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