Vor allem Zahlen auf Basis von Krankenkassendaten sind zu relativieren, da die Diagnose Depression in der ambulanten deutschen Versorgung eine breite Erweiterung erfahren hat (siehe »Burnout«) und z. B. gestellt wird, um ein sedierendes Antidepressivum bei Schlafstörung zu verordnen.
Unsere heutige Dienstleistungsgesellschaft mit ihren sich immer wieder ändernden Arbeits- und Lebensbedingungen stellt hohe Anforderungen an ihre Mitglieder. Psychische Erkrankungen werden immer bedeutsamer. Arbeitsunfähigkeitstage, Krankschreibungen und Frühberentungen wegen psychischer Erkrankungen haben zugenommen, wobei zweifelsohne depressive Erkrankungen sowieso zu den häufigsten psychischen Störungen zählen. Die Depression ist heute so bedeutsam geworden, dass man von »Volkskrankheit« spricht, nicht nur weil sie neben den Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen zählt, sondern auch weil die Rate der Früherkennung und der Behandlung zu gering erscheint. Darüber hinaus ist die Depression diejenige psychische Erkrankung mit einem Höchstmaß an Suizidalität, die in der akuten Situation mit Arbeitsunfähigkeit einhergeht, in eine anhaltende sog. chronische Verlaufsform übergehen kann und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und in Beziehungen deutlich behindert (Murray and Lopez 1996; WHO 2001; Wolfersdorf und Rätzel-Kürzdörfer 2017a, b).
Depressive Erkrankungen verursachen vor allem indirekte Krankheitskosten durch Krankheitstage, was Produktionsausfall bedeutet und Frühberentungen. Nicht erkannte bzw. fehldiagnostizierte Depressionen ziehen wegen körperlicher Beschwerden aber auch zahllose und oft überflüssige somatische Untersuchungen nach sich. Die mit depressiven Erkrankungen assoziierte Suizidalität – bis zu 60 % aller durch Suizid verstorbenen Menschen haben an einer Depression gelitten (Schaller und Wolfersdorf 2010) – besitzt angesichts ihrer Häufigkeit neben ihrer persönlichen und familiären Tragik ebenfalls große gesundheitspoltische und ökonomische Bedeutung.
Die Zahl der schwer depressiv kranken Menschen scheint in Deutschland nicht zugenommen zu haben; geschätzt wurden ca. 4–5 Millionen (1-Jahres-Prävalenz), jedoch scheinen mittelgradig und leicht erkrankte Depressive heute mehr im medizinischen Hilfesystem aufzutauchen (Jacobi et al. 2014; Wolfersdorf und Rätzel-Kürzdörfer 2016).
Die Frage, ob es eine echte d. h. anhand von epidemiologischen Daten nachweisbare Zunahme depressiver Erkrankungen gibt oder im letzten Jahrzehnt gegeben hat oder ob es sich um eine »gefühlte« Zunahme handelt, müsste auf mehreren Ebenen beantwortet werden. Man könnte fragen, ob Arbeits- und Lebensbedingungen sich »depressiogen« verändert hätten. Da ginge es um Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitsverlust, erzwungene Mobilität, Selbstausbeutung durch Arbeitszeiten, Multitasking und ständige Verfügbarkeit, also um Faktoren, die auch in der Burnout-Diskussion angeführt werden. Oft wird Disstress durch Rollenvielfalt (Beruf und Familie für Frauen) aufgeführt, andererseits kann eine gelebte Rollenvielfalt auch eine Ressource im Hinblick auf die psychische Gesundheit darstellen.
Es wäre zu hinterfragen, ob wir angesichts der schwierigen Weltsituation, die vielfach ein Gefühl der Hilflosigkeit – evtl. i. S. von Seligman‘s »Learned Helplessness« – und des Ausgeliefertsein vermittelt, eine melancholische Grundgestimmtheit und einen Verlust von Sicherheit und Tradition, von Ordnung und Verlässlichkeit (i. S. von Tellenbach) in der Gesellschaft haben. Diese Nachweise wären zu erbringen.
Sog. »Minore Depressionen«, subsyndromale Formen sowie die rezidivierende kurze depressive Episode (»Recurrent Brief Depression«, RBD) werden im klinischen Bereich selten gesehen. Die RBD kann aber mit einem ausgeprägten suizidalen Impuls einhergehen, der diese Depressionsform gefährlich macht. Eine Patientin hatte von einem tiefen Schmerz gesprochen, aus dem sie mit allen Mitteln heraus wollte, und sei es tot. Ein anderer verglich diese wenige Stunden anhaltende Depressivität mit dem Sturz in einen Brunnen, der durch die Erdmitte bis Australien reicht.
Fasst man zusammen, so lässt sich festhalten, dass von einer deutlichen Zunahme depressiver Erkrankungen (Inzidenz, Prävalenz) nicht gesprochen werden kann, sondern dass dieser Eindruck durch ein verbessertes diagnostisches Procedere (z. B. auch auf der allgemeinärztlichen Seite) und ein besseres Inanspruchnahmeverhalten (siehe z. B. »Männerdepression«), durch Awareness-Programme und Entstigmatisierungsansätze zu erklären ist. Der Anteil schwerer depressiver Erkrankungen (früher endogene Depression, affektive Psychose genannt) wurde schon Mitte des letzten Jahrhunderts mit etwa 4–5 Millionen betroffenen Bürgerinnen und Bürgern für Deutschland angegeben. Allerdings wurde die gesundheitspolitische Bedeutung einer depressiven Erkrankung erst relativ spät aufgegriffen und wird heute vor allem von den Krankenkassen durch ihre Jahresberichte und die steigenden Arbeitsunfähigkeitstage sowie Frühberentungen untermauert und in die Öffentlichkeit gebracht.
Angesichts der altersassoziierten Zunahme (schwerer und chronischer) körperlicher Erkrankungen wie KHK, Diabetes mellitus, Morbus Parkinson oder Schlaganfall hat die Bedeutung und Häufigkeit komorbider Depressionen zugenommen. Komorbidität von depressiven Störungen mit anderen psychischen bzw. somatischen Erkrankungen wird ein Schwerpunktthema der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik zukünftig werden müssen, denn depressive Syndrome beeinflussen auch Therapie, Verlauf und Rehabilitation der somatischen Krankheiten.
Epidemiologische und gesundheitsökonomische Daten können verwirrend sein. Wichtig ist, dass die in den letzten Jahren geklagte Zunahme an depressiven Erkrankungen sich nicht in den epidemiologischen Daten abbildet. In Deutschland waren in den letzten 50 Jahren immer etwa 4–5 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger an einer diagnostizierten schweren Depression erkrankt. In der EU-Studie von Wittchen et al. waren es 2005 sowie 2011 jeweils 6,9 % mit einer Major Depression und jeweils 0,9 % mit einer bipolaren Erkrankung. Zugenommen hat anscheinend die Bereitschaft (auch bei leichten und mittelgradigen Depressionen), sich in fachärztliche und psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Zugenommen haben die Arbeitsunfähigkeitstage, also die Krankschreibungen wegen einer Depression und auch die Frühberentungen bei sog. chronischen und rezidivierenden depressiven Erkrankungen und damit die Aufmerksamkeit der Krankenkassen, der Gesundheitsökonomie und -politik. Sicher ist das ein Verdienst der vielen gesundheitspolitischen Aktivitäten zum Thema Depression, die in den letzten 2–3 Jahrzehnten in Deutschland gepflegt werden, angefangen mit dem Kompetenznetz Depression/Suizidalität und den in der Nachfolge entstandenen »Bündnissen gegen Depression«, der »European Alliance Against Depression (EAAD)«, des »Greenbook« der EU-Kommission für Gesundheit zur Prävention von Depression, Drogenmissbrauch und Suizidmortalität, die Einführung eines »European Depression Day« der EU seit 2003 jeweils am 1. Oktober, die Etablierung von »Gesundheitsziele.de AG Depression« seit 2004 des Bundesministeriums für Gesundheit, des »Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NASPRO) für Deutschland« seit 2003 oder auch der Entwicklung der S3/NV-Leitlinie »Unipolare Depression« der verschiedenen Psych-Fach-Gesellschaften in Deutschland.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Читать дальше