„Warum trägst du eigentlich diese Perücke?“
„Woher weißt du das?“
„Gestern Nacht hast du dich mit Reiner unterhalten, da hast du die Perücke in der Hand gehalten.“
„Mist!“, entfuhr es ihr. Aber da hatte sie sich schon wieder gefangen. „Mir macht es Spaß, mich zu verwandeln. Ich trage immer verschiedene Perücken. Außerdem sind meine Haare nicht so toll.“
„Aha“, sagte ich nur gedehnt.
Das Schreiben ist eine gefährliche Waffe, man kann damit Menschen bis auf ihre Knochen sezieren. Ich sollte vorsichtig damit umgehen, was ich für meinen Teil meistens nicht tue, denn ich liebe Skelette, die wie in einer Totenstadt auf ihr endgültiges Ende warten, das sie nie haben werden, denn nach der Bibel leben sie ja anscheinend unendlich .
16 Uhr 30 Besichtigung des Doppeltempels Komo Ombo
Nachdem das Schiff in Komo Ombo angelegt hatte, war es Zeit für die nächste Besichtigung. Die Sonne verschenkte gerade ihre letzte Kraft, als unsere Reisegruppe in Richtung Doppeltempel ging. Wir hüllten uns in unsere Jacken, denn es wehte ein kalter Wind. Wieder kamen uns unzählige Händler entgegen, die uns bedrängten. Es gab auch Frauen, aber die saßen hinter ihren Waren und trauten sich nicht, uns anzusprechen. Der Tempel war nicht nur durch die Abendsonne beleuchtet, sondern auch durch elektrische Strahler. Wie ein Schmuckstück glänzte er uns entgegen. Leider besuchten diesmal viele Touristen den Tempel, nicht so wie auf unseren frühmorgendlichen Touren, wenn unsere Gruppe fast alleine zwischen alten Steinen herumklettern konnte. Die eine Hälfte des Tempels war dem Gott Sobek, die andere dem Gott Horus gewidmet. Erbaut wurde er circa 300 Jahre vor Christus in der Zeit der Ptolemäer. Der Gott Sobek hat einen Krokodilkopf und der Gott Horus wird, wie schon erwähnt, als Falke dargestellt. Die alten Ägypter mumifizierten die Krokodile, da sie sie verehrten. Der Reiseführer erklärte, dass leider die meisten Bildhauerarbeiten durch die Christen zerstört wurden, denn für die Christen waren die Ägypter Heiden.
Es wurde schlagartig dunkel. Die Wände und Säulen des Tempels warfen unheimliche Schatten. Toni folgte mir den ganzen Weg über durch den Tempel wie ein Schoßhündchen. Sie schien in der Dunkelheit Angst zu haben. Einmal zupfte sie mich am Jackenärmel und sagte: „Ich weiß nicht, was es ist, Annika. Aber irgendwie fühle ich mich sicher, wenn du in meiner Nähe bist.“ Dabei schaute sie mich treuherzig an.
Wir standen gerade vor einer Wand, die übersät war mit Hieroglyphen, als der Reiseleiter fortfuhr mit seinen Belehrungen:
„Hier sieht man die einzelnen Kräuter, mit denen die Ägypter versucht haben, zu heilen. Was haben die Ägypter erfunden? Die Medizin. Noch heute werden an den Universitäten Teile der ägyptischen Lehre weiter verbreitet. Viele Ägypter leiden an einer Augenkrankheit, die Trachom genannt wird. Am Anfang äußert sich die Krankheit durch tränende Augen und den Ausfluss eines Sekrets. Die Krankheit kann zur Erblindung führen. Antibiotika können helfen.“
Der Reiseleiter ging zu einer weiteren Bildhauerarbeit. Er stand vor dem Relief des Vogels Ba, Symbol für die Exkursionsseele, und meinte: „Die Seele eines toten Ägypters ist nur gesund, wenn ihre Statue oder ihr Relief erhalten bleibt. Deshalb haben die Christen die Statuen und Reliefs zerstört. Wird nach dem Glauben der Ägypter das Abbild des verstorbenen Menschen, das in der Statue ewig weiterleben soll, zerstört, wandert die Seele herum, bis sie sich einen neuen Körper sucht. Diese Seele kann in dem neuen Körper psychische Schädigungen auslösen und ihn dämonisieren bis zum Wahnsinn. Die Ägypter versuchten, die Seelenwanderung durch Gespräche zu heilen. Wer hat also die Psychotherapie erfunden? Die alten Ägypter.“
Auf dem Rückweg besuchten wir noch die Krokodilhalle, in der in einem riesigen Glaskasten mehrere Krokodilmumien ausgestellt waren. Toni verpasste die Halle, da sie mal wieder auf der Toilette war.
Zurück in der Kabine googelte ich die drei folgenden Begriffe: Seelenwanderung, Wahnsinn, altes Ägypten. Google fand nichts. Ich fragte Paul, der gerade lesend auf dem Bett lag.
Er meinte: „Das mit der Seelenwanderung habe ich noch nie gehört. Das ist doch eher indischer Glaube. Wahrscheinlich hat der Reiseleiter das aus einer ägyptischen Bildzeitung. Der hat schon mehrere falsche Sachen gesagt. Dem glaube ich nicht alles.“ Damit war für ihn das Thema beendet und er las weiter. Ich ging an Deck. Ich wollte mir vor dem Essen einen Wein genehmigen. Toni saß alleine an einem der Tische. Ich setzte mich zu ihr und sagte:
„Wie wär‘s mit einem kleinen Vorabend-Drink?“
„Vor dem Essen?“
„Warum nicht?“ Sie willigte ein. Ich ging an die Bar und bestellte zwei Gläser Rotwein.
Als der Ober die Gläser vor uns hingestellt hatte, meinte Toni:
„Dein Paul würde mich interessieren.“
„Wieso? Inwiefern? Als Mann?“
„Als Gesprächspartner, er ist so intelligent.“
„Aber du verstehst dich doch anscheinend gut mit Reiner.“
„Ja, aber der macht nur ständig irgendwelche Witze. Reiner ist mir zu oberflächlich. Er ist ja wie ein Clown. Paul dagegen scheint sehr tiefgründig zu sein.“
Ich machte mir Gedanken über Tonis Manöver. Was sollte das jetzt? Zuerst drang sie in die Beziehung von Gisela und Reiner ein, und jetzt auch noch das! Und was war mit mir? Ich glaubte ihr nicht, dass sie Paul nur als Gesprächspartner haben wollte. Aber sie konnte mir Paul nicht wegnehmen. Er würde sich bestimmt nicht mit einer älteren Beamtin aus einem tristen Loch, wie Calw es war, einlassen. In so jemanden verliebte sich nur ein Narr wie ich. Ich trank meinen Wein aus und verabschiedete mich von Toni. Ich war stinksauer. Das Schiff legte gerade ab in Richtung Assuan.
Als Schriftsteller ist man immer alleine. Paul ist zwar da, aber ich nehme ihn manchmal gar nicht wahr. Er ist wie ein kleines zweites Ich, das es sich in meiner Seele bequem gemacht hat und darauf wartet, auch einmal etwas sagen zu können, aber seine Worte kommen in meinem Geist nicht an .
Als Paul und ich zum Abendessen kamen, sah ich, dass sich Toni geschminkt hatte. Das nahm ihr das fahle Aussehen der letzten Tage. Ob sie sich wegen Paul geschminkt hatte? Reiner erzählte gerade wieder einen Witz:
„Was ist der Unterschied zwischen einem Kondom und dem Kölner Dom?“ Toni legte fragend den Kopf schief.
„Beim Kondom hängen die Glocken draußen.“
Sie prustete vor Lachen. Aber Gisela fauchte Reiner an:
„Kannst du nicht mal diese blöden Witze sein lassen?“
Er sagte: „Aber sie scheinen wohl doch ein paar Leute zu amüsieren.“ „Ich habe diesen Witz jetzt schon tausendmal gehört.“
Reiner schob seine Unterlippe nach vorne. Er schmollte. Während die beiden stritten, beobachtete ich Toni, die immer wieder aus den Augenwinkeln Paul anschaute. Sie schien sich nicht zu trauen, ihm direkt ins Gesicht zu blicken.
Später, in der Kabine, kurz bevor ich ins Bett ging, fragte ich Paul: „Hast du eigentlich bemerkt, dass dich Toni öfters anschaut?“
„Wer ist Toni?“
„Aber Paul, sie sitzt dir beim Essen direkt gegenüber!“
„Ach so, die! Nein, habe ich nicht bemerkt. Müsste ich das denn?“
„Nö, war nur so eine Frage.“ Damit machte ich es mir im Bett gemütlich. Ich war hundemüde.
Ich ging im Traum durch eine riesengroße Wohnung. Ich spähte immer wieder durch eine der Türen. Jedes Mal war es dunkelorange in den Räumen. Es sah aus wie im Fegefeuer, aber es war nur das Licht, das bedrohlich wirkte. Ich ging weiter. Plötzlich musste ich mich, um in den nächsten Raum zu gelangen, bücken und ganz klein machen. Ich kroch mit Anstrengung unter der Tür durch und kam ich eine Art Tropfsteinhöhle. Weiter hinten stand ein Altar mit einer weinroten Decke. Auf dem Altar lag eine nackte Frau, die Paul gerade von hinten nahm. Ich schrak hoch. Es war vier Uhr morgens.
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