Ich wusste die Aktion Tonis von heute Mittag nicht zu deuten, und warum starrte sie Paul ständig wie eine Gottesanbeterin an? Trotzdem spürte ich ein unzerreißbares Band zwischen Toni und mir und deshalb musste ich sie jetzt wegschicken, damit Paul keinen Verdacht schöpfen würde.
Außerdem war ich mir in dem Moment sicher, dass Paul nicht noch einmal auf eine Frau hereinfallen würde, um mich zu betrügen. Schließlich war er jetzt zu alt dafür. Bei uns im Bett war seit Jahren nichts mehr gelaufen, also würde es bei einer anderen auch nicht mehr funktionieren.
Ich sagte zu ihr:
„Paul und ich wollen reden. Jetzt geht es gerade nicht.“ Sie ließ den Kopf hängen, überlegte kurz, drehte sich um und sah Linda und Jakob in einiger Entfernung sitzen. Also ging sie auf deren Tisch zu, setzte sich zu ihnen und begann, den beiden etwas vorzuheulen. Ich hörte, wie sie zu Linda sagte, sie habe Selbstmordgedanken, aber Linda schien sie beruhigen zu können, also wandte ich mich wieder an Paul:
„Sie kann schon ganz schön aufdringlich sein, aber sie tut mir irgendwie leid.“ Dabei dachte ich mir insgeheim: Toni ist sehr zerbrechlich, wie bei einem kleinen Vogel könnte man ihr die Beine im Handumdrehen brechen.
„Sie ist alleine, aber sie sollte uns und die anderen auch mal in Ruhe lassen.“
„Zurück zu den Ägyptern. Paul, du hast doch so viel gelesen. Du liest jeden Tag die FAZ, da müsstest du doch eine Lösung für das Land haben. Du weißt alles über Politik, Wirtschaft und Geschichte.“
Ich formte mit meinen Händen eine Schale und streckte sie ihm hin mit den Worten:
„Hier, die Kristallkugel. Du alleine hast die Welt mit ihren komplexen Zusammenhängen in der Hand. Du hast das Ganze. Tu was!“
„Das ist wie früher im Kolonialsystem. Wir, die Reichen aus dem Westen, beuten die Armen in Ägypten aus. Wir können ihnen aber nicht helfen. Die haben eine Diktatur. Das Volk ist es gewohnt, Befehle zu erhalten. Die wollen aus ihrer Unselbstständigkeit gar nicht heraus. Und wenn hier mal eine Demokratie errichtet werden sollte, dann kann das nur ultralangsam voranschreiten.“
„Und was ist mit Europa? Auf uns kommt durch die Digitalisierung eine Massenarbeitslosigkeit zu. Hast du da eine Lösung?“
„Hm, ich glaube, es wird mal etwas Ähnliches wie das bedingungslose Grundeinkommen geben. Aber mehr kann ich dir hierzu auch nicht sagen.“ Ich schaute mich nach dem Ober um und bestellte ein weiteres Glas Wein. Ich starrte etwas missmutig auf den Boden. Das, was Paul gesagt hatte, war mir zu wenig, da er auch keine Lösung hatte.
Als der Ober den Wein servierte, fiel mir auf, dass das gesamte Personal an Bord männlich war. Es gab nicht einmal Zimmermädchen. Dieses Geschäft erledigten auch die Männer.
Nachdem wir ausgetrunken hatten, gingen Paul und ich in unsere Kabine. Die anderen würden alle heute Nacht um halb drei Uhr aufstehen, um mit dem Kleinbus nach Abu Simbel zu fahren. Ich hatte beschlossen, mir das nicht anzutun. Wenn ich mitten in der Nacht aufstehen musste, war der nächste Tag im Eimer. Ich freute mich auf den Morgen, an dem ich in Ruhe alleine herumtrödeln konnte.
Im Halbschlaf stellte ich mir vor, Toni und ich säßen nackt am Meer im Sand. Das Meer leckte unsere Füße. Der Sand hatte unsere Körper teilweise bedeckt, und da beugte sich Toni über mich und küsste mich so wie heute Mittag in ihrer leidenschaftlichen Art. Mit dem Gedanken schlief ich selig ein.
Unsere Seelen wandern in der gleichen Sphäre auf Pfaden, die keiner von uns kennt. Wir werden sie gegeneinander austauschen und uns prüfen, aber es wird immer dieses scheußliche Gefühl von Angst dabei sein, den anderen zu verlieren. Der Rasen ist jetzt definitiv zu trocken, ich muss die Schlange wieder anwerfen .
5. Tag, Abu Simbel und Segeltörn
In der Nacht war ich nur einmal kurz aufgewacht, als Paul sich fertig machte zum Gehen. Den Wecker hatte ich auf halb acht gestellt, weil es nur bis halb neun Frühstück gab. Ich erwachte fröhlich und endlich einmal ausgeschlafen. Ich war so froh, dass ich nicht zu dem Ausflug mitgegangen war. Endlich mal Ruhe und ich konnte nachdenken. Beim Frühstück saß ich alleine an dem langen Tisch, aber es machte mir nichts aus. Vergnügt aß ich mein hart gekochtes Ei, etwas Toast und Käse. Später machte ich in der Suite auf dem Bett meine Rückengymnastik. Und dann, darauf hatte ich mich am meisten gefreut, ging ich nach oben an Deck zum Heck und schwang mich für eine dreiviertel Stunde aufs Laufband. Das war überhaupt nicht langweilig. Ständig kreuzten Schiffe und man konnte auf die ganzen Nil-Schiffe schauen, die wie eine kleine Stadt vor Assuan angelegt hatten. Nachdem ich geduscht hatte, packte ich mein Schreibheft ein und setzte mich wieder aufs Deck mit einem Cappuccino. In Bruchstücken schrieb ich das Erlebte nieder. Was würde noch kommen? Als ich genug hatte vom Schreiben, stand ich auf und ging bis zum Geländer ans Heck. In dem Moment passierte ein Boot voll beladen mit Müll das Schiff. Es stank fürchterlich. Der Dieselgeruch war fast genauso unerträglich. Was für eine Umweltsauerei wir Europäer in Ägypten anrichteten! Ich schaute noch mal nach unten auf den Nil. Links und rechts waren zwei Rettungsboote am Schiff befestigt. Dazwischen eine schmale Aussicht auf den Nil. Wenn sich da jemand hinunterstürzen würde! Der müsste elegant zwischen den beiden Booten hindurchfallen. Ich ging in die Kabine, um auf die Ausflügler zu warten. Draußen auf dem Balkon konnte ich auf die Uferpromenade blicken. Und kurze Zeit später kamen sie an. Ich sah, wie sich Paul mit Toni unterhielt. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht! Ich biss mir auf die Lippen. Waren sie sich auf der Fahrt ohne mich nähergekommen? Mein Herz pochte wie damals bis zum Hals, als ich diese Ahnungen hatte, dass Paul fremdging. Beim Mittagessen waren alle total fertig und müde, bis auf Paul. Alle beklagten sich, man hätte in dem engen Bus nicht schlafen können und Abu Simbel sei so überflutet von Touristen gewesen, dass es überhaupt keinen Spaß gemacht hätte. Nur Paul war guter Dinge, er hatte im Bus gut geschlafen. Ich sagte zu ihm:
„Du bist ein Monster, Paul.“ Normalerweise hätte ich das mit einem Lachen gesagt, aber mir blieb das Lachen im Hals stecken.
Nachmittags war noch ein leichtes Programm vorgesehen. Wir gingen auf Segeltörn. Paul und Toni hatten sich nebeneinandergesetzt und manchmal meinte ich, ihre Hände würden sich berühren. Oder bildete ich mir das nur ein? Reiner saß neben mir und ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er giftige Blicke auf Toni absandte. Er schien jetzt total eifersüchtig zu sein. Ich durchschaute Tonis Spiel nicht. Ich hatte Fragen ohne Ende. Der Ägypter, der das Boot segelte, hatte nur noch drei Zähne im Mund und trotzdem hatte er anscheinend drei Frauen. Der Reiseführer erzählte, dass auf dem Land die Mädchen noch beschnitten würden. Die Jungen aus Reinheit sowieso. Die Fahrt war ruhig und beschaulich, wenn da nicht mir gegenüber Toni und Paul säßen, die wie vereint auf die Uferpromenade des Nils schauten. In mir kochte es.
Wenn ich über dich schreibe, denke ich an die weißen Mäuse, die ich unwiederbringlich verloren habe in meiner Kindheit. Die weißen Mäuse, Toni, das bist du .
Vor dem Abendessen saß ich alleine auf dem Deck und schrieb in mein Heft. Die ganzen Affären von Paul kamen wieder bei mir hoch. Und dass er mich überhaupt nicht mehr begehrte, war ein Fiasko. Fast begann ich zu weinen, als sich Toni zu mir setzte, ohne auch nur zu fragen. Sie sprudelte sofort los:
„Ich will deinen Paul, nicht Reiner. Paul ist so ähnlich wie Richard. Und ich glaube, es wäre okay, oder? Ihr wohnt doch nicht einmal zusammen, und verheiratet seid ihr auch nicht. Da kann ich doch dazwischengehen.“
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