1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Darum vertraute sie der Weisheit ihres Körpers und hörte auf ihn, als er ihr sagte, wohin sie gehen solle. Ja, gewiss stand jetzt der Satan zwischen ihnen und brachte mit Verve seine Anklage vor, bis er ganz heiser wurde. Denn zum ersten Mal, seitdem sie mit Jonatan zusammen war, kam ihr die Möglichkeit in den Sinn, mithilfe eines fremden Körpers, eines anderen Mannes das Raum-Zeit-Kontinuum aufzusprengen. Ihre Augen wanderten hin und her. Aha, da, ein blonder, sonnengebräunter Mann mit zwei Kindern. Oder dort hinten, ein schmusendes junges Pärchen. Und schon entdeckte sie einen Einsamen, der in der Sonne briet und jetzt auch sie bemerkte, von oben bis unten musterte, lächelte und sich mit einem schweren, silbernen Feuerzeug eine Zigarette anzündete. Sie fingerte zwischen den Buchseiten nach ihrer Zigarette, als ginge es um einen kleinen Immobilienbesitz.
Im Hintergrund erklang plötzlich »Hey«, dieser Song von den Pixies, den die DJs in ihrer Jugend immer am Ende einer Party gespielt hatten. Ja, sie waren fest aneinandergekettet, doch was diese Kette zusammenhielt, waren keine Gesetze oder Zeremonien, es war Liebe. Und sie verstand, sie musste nicht aufstehen und sich mit Jonatan versöhnen, sie war nicht dazu verpflichtet, aber etwas in ihr wollte es. Also stand sie auf, faltete die Decke zusammen, drückte die Zigarette aus und ignorierte den braun gebrannten, schleimigen Italiener, dessen Gesicht und Oberkörper rasiert waren und der sich mit den Händen in den Hüften, irgendwas auf Italienisch oder Französisch brabbelnd, vor ihr aufgebaut hatte. Sie wusste noch nicht, was genau sie Jonatan sagen wollte, aber sie war in der richtigen Stimmung, voller Liebe und Reue. Nachdem sie dem Meer den Rücken zugewandt hatte und den grünen Hügel hinaufgeklettert war, sah sie zahllose junge Paare, die eng umschlungen den Sonnenuntergang betrachteten. Obwohl sie allein war, fühlte sie sich ihm unendlich nah, so nah sogar, dass sie irgendeinen Fahrradfahrer in der Ferne für ihn hielt und ihm Wogen der Liebe entgegenschickte. Erst als der Fahrradfahrer mit gewaltiger Geschwindigkeit immer näher kam, begriff sie, er war es wirklich, ein Ende, wie sie es zu erträumen gar nicht erst gewagt hätte.
Jonatan stieg vom Fahrrad, und sie umarmten sich fest, verschmolzen wie auf dem Gemälde von Edvard Munch in einem innigen Kuss. Er sagte: »Ich habe geträumt, du wärst für immer fort gewesen, habe entsetzlich geweint, dann bin ich aufgewacht und habe begriffen, du bist wirklich fort, und habe noch mehr geweint. Es tut mir leid. Ich lass dich nicht mehr gehen.« Er hatte einige Leckereien mitgebracht: Brot und Würste, eingelegte Artischocken und eine mit Bast umwickelte Flasche Chianti; alles, was man für ein Picknick in der Abenddämmerung brauchte. Er öffnete die Flasche, nahm einen Schluck, bot auch ihr einen an und schlug dann vor, noch kurz im See zu schwimmen, bevor die Sonne unterging. Sie tauchten ins Wasser ein, die Beine versanken im weichen Sand, und sie küssten sich. Hätte sie jemand dabei gefilmt, er hätte sie bestimmt einmal mit der Kamera umkreist.
DIE SÄUGER-MASCHINE
DAS WISSEN DES KÖRPERS
Tag: 1
Datum: 25.12.
Zeitpunkt des Blasensprungs: 1:38 Uhr
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Sie hatte großen Durst, wollte aber nicht um etwas zu trinken bitten, aus Angst, wieder auf die Toilette zu müssen.
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Wie spät es wohl war? Vielleicht war es schon Zeit, aufzustehen. Sie öffnete die Augen.
In einem mit strahlend weißen Bettlaken bezogenen Eisenbett, nur eine Handbreit von ihr entfernt, lag eine rothaarige Frau auf der Seite und stopfte Sachen aus dem Nachtschränkchen in eine große Nylontasche von Hello Kitty. Der dicke Bauch der nackten Frau hing nach unten. Die Wangen waren gerötet. Der Vorhang ihres Bettes war zurückgezogen, und sie trug das Lächeln einer Gesalbten.
»Sie haben ganz schön geschnarcht. Es war so laut, dass ich dachte, Sie wachen selbst davon auf. Ihre erste Geburt?«
Sie nickte.
»Kaiserschnitt?«
Sie nickte.
»Ich hab schon zwei hinter mir und lebe noch. Ich bin Chaja. Im Badezimmer sind Badelatschen, sie sind ganz neu, können Sie mir glauben, da müssen Sie sich nicht ekeln.«
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Flüsterstimmen weckten sie. Eine flackernde Neonbirne. Der Vorhang rundum zugezogen. Eine dunkelgrüne, mit rosa Blümchen übersäte Wand aus Stoff.
»Gott sei Dank. Dreimal auf Holz geklopft. Wir haben es nur dem Segen von Rabbiner Schimschoni zu verdanken, dass bei Schirani trotz Steißlage alles gut gegangen ist. Sein Name sei gepriesen. Ohne PDA. Umso besser.«
»Schirani, Liebes, trinkst du auch Dunkelbier? Und iss ein paar Mandeln, das ist gut fürs Stillen.«
»Ich trinke ja. Mama, es reicht jetzt.«
Um die eine Hand war ein dünnes, weißes Nylonband gebunden, an der anderen der Verschluss befestigt, der sie mit dem tropfenden Infusionsbeutel verband. Trotz der groben blauen Wolldecke fror sie an den Zehenspitzen. Sie wollte jemanden rufen, aber da war niemand, nach dem sie hätte rufen können. Sie war allein. Wollte nicht nach dem Unterleib tasten. Wollte nichts wissen. Wollte nur aufstehen. Das Gesicht des kleinen Mädchens sehen.
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Dieses Mal weckte sie ihr trockener Mund. Die Zunge klebte am Gaumen. Und wieder diese Stimmen. Fremd. Kaum zu unterscheiden.
»Hier, nimm sie. Das ist Iris, Schirani.«
»Mein Spatz, wie geht’s? Sie haben mich in Stücke gerissen.«
»So hat es Gott gewollt.«
»Du hast keine Ahnung, was da draußen los war. Ich und Jossi standen mitten auf der Ajalon-Schnellstraße im Stau, es war fünf Uhr morgens, und ich hatte alle drei Minuten Wehen. Die Motorhaube fing an zu rauchen, Jossi stellte ein Warndreieck auf, ich wand mich vor Schmerzen auf dem Rücksitz. Ich war außer mir, und kein Taxi in Sicht, nichts. Leben in mir und die Straße tot. Schließlich hielt auf der anderen Seite ein Auto mit zwei jungen Burschen um die zwanzig, unterwegs nach Hause von irgendeiner Party, und die haben uns mitgenommen. Das ganze Auto stank nach Bier und Zigaretten. Wir sagten: ›Zum Ichilov.‹ Aber die haben gar nicht kapiert, wovon wir reden. ›Wo, was für ein Ichilov?‹«
Schirani war also die neue Wöchnerin im Zimmer. Sie wollte den Vorhang beiseiteschieben, doch als sie versuchte, sich aufzusetzen, wurde ihr schwindlig. Sie zögerte kurz, dann drückte sie auf den Notknopf. Eine Frau in Weiß erschien und zog den Vorhang auf. Fünf Uhr dreißig morgens. »Jetzt sehen wir doch mal, ob Sie Wasser lassen können. Was ist Ihnen lieber, Tabletten oder eine Spritze gegen die Schmerzen? Sie können auch beides haben. Und das Trinken nicht vergessen, hier ist Wasser für Sie. Ziehen Sie bitte Krankenhaushemd und Unterhosen an und nehmen Sie einen frischen Verband mit.«
Die Schwester half ihr aus dem Bett und begleitete sie zur Toilette, viereinhalb Schritte. In der einen Hand hatte sie den Infusionsbeutel und die Utensilien, mit der anderen hielt sie sich das Krankenhaushemd zu – hinten offen, dass Schirani und Schiranis Mutter jetzt bloß nicht guckten.
Sie löste einen Knoten hinten und setzte sich.
Sie spürte nichts. Es war nicht so, dass sich nichts verändert hätte, es hatte sich extrem viel verändert. Der Bereich, in dem operiert worden war, vom Bauchnabel abwärts, war wie taub, sie fühlte dort nichts. Keinen Schmerz, kein leichtes Prickeln. Nicht mal einen Luftzug auf der Haut. Aber sie konnte Pipi machen. Ein Wunder. Das Gehirn sendete den Befehl dorthin, wo sie selbst nichts als Leere spürte. Und siehe da, es lief, deutlich hörbar. Das Wissen des Körpers.
Sie nahm den roten Verband ab und linste nach unten. Eine breite, mit kleinen Nadelstichen stramm zusammengehaltene Schnittwunde. Der Bauch sah aus wie ein Gesicht: Brüste – Augen, Bauchnabel – Nase und, seit Neuestem, darunter der Schnitt – ein breiter, rosafarbener Mund. Sie hatten offensichtlich einen ziemlich langen, geraden und gleichmäßigen Schnitt von rechts nach links gezogen und, als das nicht reichte, entlang einer etwas kleineren, diagonalen Linie noch nachgeschnitten. Darum lächelte sie der Mund von da unten jetzt leicht schief an.
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