1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Sie stiegen aus der Gondel und spazierten zum jüdischen Ghetto. Jonatan las ihr ein paar Zeilen aus der Broschüre vor, die am Eingang zum Viertel ausgeteilt wurde: »Wenn die Juden über Mussolini redeten und sich beschweren wollten, ohne dass man verstand, wer gemeint war, nannten sie ihn den ›großen Goi‹.« Als die Sonne unterging, aß er süße Sardinen mit grünen Trauben. Sie verzichtete auf das Grab von Ezra Pound.
Auf dem Weg zurück zum Hotel zog Jonatan sie in eine finstere Gasse, in deren Mitte eine breite Fontäne stand, zum Sprung ansetzende Leoparden, in Marmor gebannt. Die Fenster ringsum waren zerbrochen, die Farbe blätterte von den Wänden ab, Grün, Gelb, Braun, Rot. Sie bemerkte das, als er ihre Hände gegen eine der Wände presste, ihr den Slip herunterriss und sie von hinten vögelte. Ihre Finger versanken im Moder und färbten sich grün.
Am nächsten Morgen verließen sie Venedig, und schon gegen Mittag waren sie an den Ufern des Gardasees. An der Rezeption ihres Hotels liehen sie sich Fahrräder für eine Tour. Der Himmel hätte blauer nicht sein können. Zwischen Straße und See lugte hier und da eine große, zerfallene Villa hervor. Ein gelbes Schloss, in dem Vögel statt einer Prinzessin hausten. Ein altes Häuschen aus rotem Ziegelstein, an dem ein gelbes Neonschild prangte und versprach: Pizza Pizza Pizza. Ein Strand, an dem einige Dutzend Italiener in der Sonne brieten.
Er fuhr voran, sie folgte. Hoffte, das In-die-Pedale-Treten würde für Entspannung sorgen, Endorphine freisetzen. Die Sonne verwischte Konturen, schickte ihnen Strahlen, molti-belli. Er fuhr schnell, die schwerfälligen Scheiben der Stadträder drehten sich in eingespieltem Rhythmus. Gelegentlich machte er einen Katzenbuckel; und ausgerechnet hier, hinter ihm, wenn er nicht sprach und auch sie vor Anstrengung schwieg, fühlte sie sich wohl. Selbst die Wut schien ihr willkommen. Sie konnte sie aushalten. Alles war in bester Ordnung.
Im Ortskern eines kleinen Ferienstädtchens mündete die Straße auf einen öffentlichen Platz. Vor einem Eiscafé stiegen sie von den Fahrrädern. Zwei weiß gekleidete Jungen standen hinter ihnen in der Reihe und warteten geduldig, während er die Geschmacksrichtungen Orangenschokolade und Pistazie probierte. Er nahm drei Kugeln, sie eine. »Hat dir das Fahrradfahren gutgetan?«, fragte sie. Er nickte. Das Schokoladeneis hinterließ eine braune Spur auf seiner Wange.
»Möchtest du vielleicht ein bisschen durch das Städtchen spazieren? Schau mal, ist doch richtig nett hier.«
»Etwa, um noch mehr zu shoppen?«, erwiderte er. Sie verneinte, gab es nicht zu, dass sie eigentlich genau das wollte. Sie wollte nur nicht zu viel Geld verprassen.
»Hier ist nicht wirklich was los. Komm, fahren wir weiter. Eine kleine schöne Rundfahrt, einmal um den See.« Zu ihrem Entsetzen wollte er tatsächlich den ganzen See umrunden. Bitte nicht.
»Das sind aber ganz schön viele Kilometer, ich glaube kaum, dass ich das durchstehe.«
»Du musst nicht stehen, das ist ja das Tolle, bloß sitzen und treten.«
Sie schwieg. Was sollte sie dazu sagen? Er wusste doch, dass sie keine gute Kondition hatte.
»Na gut, dann ruhe ich mich eben im Hotel aus.«
»Willst du nicht an den See? Wir könnten ein bisschen baden?«
»Nee, danke, ich lege mich lieber im Hotel aufs Ohr.«
Sie fuhren zurück, er wieder voraus, schnell und immer weiter, und sie mühte sich ab, mitzuhalten. Zu ihrer Erleichterung war es nicht mehr weit bis zum Hotel, links von ihnen lag schon der Badestrand, ganz bunt vor lauter Sonnenschirmen.
»Willst du nicht mal am See anhalten?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ich sagte dir doch schon, ich habe keine Lust«, erwiderte er und legte noch einen Zahn zu.
»Worauf hast du dann Lust?« Ihr stand ein kleiner Anstieg bevor, deshalb trat auch sie noch schneller in die Pedale, verlor kurz die Kontrolle, schwankte und stürzte vornüber in den Kies. Der Schmerz verschlug ihr die Sprache. Ihr war sofort klar, dass sie sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Einige Steinchen klebten an den Händen, beinahe waren sie in die dünne Hautschicht eingedrungen, so aber hinterließen sie nur rote Abdrücke. Das linke Bein war verdreht, und als sie es bewegte, spürte sie einen leichten Schmerz. Er war weitergefahren, drehte sich nun um und sah sie auf dem Boden liegen.
Er blieb sofort stehen, fuhr aber nicht zu ihr zurück. Er fixierte sie lange mit wütendem Blick, als wäre sie ein kleines Mädchen, das etwas Dummes verbrochen hatte. Wenn er sie so anschaute, musste sie immer automatisch weinen, diese Kränkung war größer als der Schmerz. Am Ende kam er doch noch zu ihr und half ihr, aufzustehen. Sie wünschte nichts sehnlicher, als in seine Arme zu fallen und in inniger Umarmung von ihm getröstet zu werden, aber sie hatte das Gefühl, sie durfte das nicht tun. »Du nimmst mich noch nicht mal in den Arm«, flüsterte sie tonlos.
»Was?«, fragte er.
»Ich finde es seltsam, wie du reagierst«, sagte sie, »warum bist du nicht gekommen und hast mich umarmt?« Wieder war er durch die Prüfung gefallen.
»Dieser ganze Pfuschfitz ist mir fremd«, sagte er und stieg wieder auf sein Fahrrad. Als er gen Horizont davonraste, überlegte sie, was er gemeint haben könnte. »Phase«? »Ferien«? Oder »Flitter«?
Lustlos fuhr sie allein zum Privatstrand des Hotels und suchte sich ein schönes Eckchen. Die Sonne stand tief am Himmel, die Wellen kräuselten sich sanft. Vom Nachbarstrand dröhnte laute Musik herüber, bésame, bésame mucho. Sie breitete ihr Handtuch nahe am Wasser aus, versteckte ihre Tüte darunter und tauchte ins blaue Nass. Der See umfing sie, sie tauchte unter, tauchte wieder auf, auf und ab, brach durch die Wellen, schwamm unter Wasser, wusch alle Gedanken von sich ab. Und so, ganz leer geworden und erfrischt, trat sie wieder auf den heißen Sand, spannte akkurat die Enden des Handtuchs aus, kümmerte sich nicht um Sonnenschutzcreme und zückte ohne das geringste Schuldgefühl die Zigarette, die sie zwischen den Seiten ihrer Ferienlektüre versteckt hatte: »Herzog« von Saul Bellow, sie hatte noch keine einzige Zeile darin gelesen. Um sie herum rauchte niemand; statt aufzustehen und jemandem das Feuer zu stehlen, schloss sie die Augen und stellte sich vor, sie hätte ein grässliches Date mit einem tollen Mann. Oder ein tolles Date mit einem scheußlichen Mann. Jeder Gedanke war ihr lieber als der an Jonatan. Sogar den Gedanken an Sex mit dem widerlichen Alex fand sie jetzt witzig.
Der bombastische Sex war in der Tat die Wurzel des Problems, hier lag der Grund für den großen Irrtum von allem, was mit Jonatan zusammenhing. Seitdem sie zusammen waren, empfand sie es als einen Segen, wie einfach doch der Körper gestrickt war: Er musste vor allem als nützliches Werkzeug zur Erforschung der Wirklichkeit dienen, denn er allein war das Fundament der Wirklichkeit. Diese Erkenntnis war ein langer Prozess gewesen und darüber hatte sie Jonatan kennengelernt. Dieser kühle Gedanke nutzte ihr bei der Arbeit, aber nicht in ihrem Liebesleben. Nachdem sie jahrelang immer wieder die falsche, wenn auch stets genau durchdachte, der Vernunft geschuldete Wahl getroffen hatte, die deshalb nur in der Theorie ausgezeichnet funktionierte, hatte sie bei Jonatan das erste Mal auf ihr Herz gehört, das heftig geschlagen hatte. Der Rhythmus des Herzschlags gewann gegen den Tyrannen, das drängelnde Hirn. Sie hatte sich das erste Mal in ihrem Leben dessen despotischer Diktatur widersetzt und den Gefühlen ihres Körpers vertraut, diese zu Alleinherrscherinnen gekrönt, sie alles entscheiden lassen. Nicht weil diese Gefühle so angenehm gewesen waren (das waren sie), sondern weil sie bei allem, was ihr Privatleben betraf, ihre eigene Logik stets selbst voraussah, prüfte und einordnete: leere Magie. Eitler Dunst. Unsinn. Weil die Ratio sich immer wieder als irreführend herausstellte, war die Entscheidung fürs Fleisch ironischerweise der einzig logische Schritt. Hier biss sich die Katze in den Schwanz. Von nun an wäre das Körperliche der Schlüssel ihrer Wahrheit. Wahrheit war Liebe, und Liebe begann beim Fleisch. Es hatte nichts Spirituelles an sich, wenn der Geist den Körper gefangen nahm, im Gegenteil. Die Materie segnete die Seele.
Читать дальше