Plötzlich erklingt eine göttliche Stimme vom Himmel und verkündet: »Schau dich hier nicht um. Nicht nach rechts und nicht nach links. Schau nur auf dein eigenes.« Es dauert einen Augenblick, bis sie begreift, dieser Befehl ist an sie gerichtet. Ja, genau sie ist gemeint, sie hat sich umgesehen und dabei verbotenerweise mit den Augen andernorts herumgestochert; eine Sünde hat sie damit begangen, eine, die nicht weniger fatal ist als die Sünde von Lots Frau. Beklommen dreht sich Schneider, die Mutter von wieder zum Inkubator und bemerkt plötzlich, dass zwei Schwestern neben ihr stehen. Die ältere von beiden, die, mit der sie eben schon gesprochen hat, ist eine sehr gepflegte, perfekt geschminkte Frau, das grauviolette Haar trägt sie zu einem Beehive aufgesteckt. Sie kommt ihr bekannt vor. Nur woher?
Die andere Schwester ist noch jung, hochgewachsen und hat einen kugeligen großen Bauch, mit dem sie fast gegen Schneiders Gesicht stößt. »Ich bin Smadar«, sagt der Bauch mit niedlicher Stimme.
»Sie sind schwanger«, stellt Schneider verblüfft fest. Irgendwie das Letzte, womit sie hier gerechnet hat.
»So ist es«, erwidert die Schwester und fährt einmal mit ihrer Hand um den ganzen Hügel herum. »Kommen Sie, wir bringen Sie zur Stillunterstützung, da müsste jetzt jemand frei sein, der sich um Sie kümmert.«
Die ältere Schwester schaut sie noch immer mit lila geschürzten Lippen an und warnt: »Nicht vergessen, achten Sie immer nur auf Ihr eigenes.«
Entsetzen überfällt Schneider, die Mutter von. Es ist unvermeidlich, dass sie sich erschreckt. Aber dann erinnert sie sich plötzlich, warum die ältere Schwester ihr bekannt vorkommt, und es schnürt ihr die Kehle zu. Sie sieht aus wie die verlorene Schwester von Mrs. Slocombe aus dieser britischen Fernsehserie »Are you being served?«, die sie als Kind immer angeschaut hat.
»Da ist ja Schwester Rinat. Gehen Sie mit ihr mit«, sagt Schwester Smadar.
»Aber ich will … ich hatte noch gar keine Zeit, das Mädchen … ein bisschen bei ihr zu sein.«
»Sehen Sie doch, das Frühchen schläft, fassen Sie es besser nicht an.«
Zu dritt stehen sie um den Inkubator, und sie betrachtet ihre Tochter, wie sie in der durchsichtigen Arche ruht. Sie kann nichts tun, nur schauen.
Die Stillberaterin, Schwester Rinat, ist klein, hat blassrosa Haut, eng stehende Augen, ein Grübchen in der linken Wange und ein breites, dickes Gesicht wie eine dieser Cabbage Patch Kid-Puppen. Schwester Rinat zieht sie wortlos hinter sich her. Sie verlassen das große, geschäftige Zimmer 1 und gehen auf den leeren, dunklen Korridor, von dort in eine dunkle, fensterlose Nische mit Neonlicht. Auf einem Tisch und auf dem Boden stehen Kartons, randgefüllt mit Materna-Verpackungen und pastellfarbenen Plastikflaschen. Schwester Rinat gibt ihr ein Blatt zum Durchlesen. Sie habe keine Kopien davon, sagt sie, obwohl sie eigentlich welche austeilen sollte. »Also das Blatt bitte nur kurz durchsehen und dann zurückgeben, gut?«
Laut Überschrift handelt es sich um »Hinweise der Neonatologischen Abteilung für die Eltern von Frühgeborenen«.
Sie kommt nicht weiter als bis zur Überschrift, da Schwester Rinat ein leeres Reagenzglas aus ihrer Kitteltasche zieht und sie auffordert, das Hemd zu öffnen. Ohne eine Reaktion abzuwarten, streckt sie die Hand aus, packt die linke Brust und drückt die Brustwarze zusammen. Sie presst sie zwischen ihren Fingern, kneift fest zu, es brennt entsetzlich wie ein heißer Blitz. Gleichzeitig stellt Schwester Rinat eine Frage nach der anderen:
»Warum haben die Wehen eingesetzt?«
(Weiß sie nicht.)
»Warum wurde ein Kaiserschnitt gemacht?«
(Weil plötzlich das Fieber angestiegen ist.)
»Hatten Sie vor zu stillen?«
(Ja, schon. Sie hatte auch vor, zu Walgesängen und Sitarklängen zu gebären anstatt mithilfe eines Schlachtmessers, reicht das?)
»Welche Woche?«
»Welche Lage?«
Welche? Welche? Welche?
Schwester Rinat weiß die Antworten bereits, zumindest das Wichtigste, denn das steht alles im Krankenhausbogen mit dem Aufkleber »Schneider, die Tochter von« auf ihren Knien. Wahrscheinlich sollen die Fragen sie, die hier angezapft und ausgequetscht wird, vom Schmerz ablenken. Obwohl Ausquetschen nicht das richtige Wort dafür ist. Wenn man genau sein will, ist das, was hier passiert, eigentlich Missbrauch, eine Invasion in ihre Intimität, der sie wehrlos gegenübersteht. Entsprechend groß ist der Schmerz.
Ein Mädchen in himmelblauem Sweatshirt späht kurz durch das Fenster in der Tür, und Schneider, halbnackt, macht sich vor Verlegenheit ganz klein. Schwester Rinat knetet unbeirrt weiter. Die Brustwarze wird steif und schrumpft, sie wirkt sogar dunkler, die Knübbelchen auf dem Warzenhof werden spitzer. Es fällt ihr schwer, nicht hinzuschauen. Sie hofft inständig, dass etwas herauskommt. Eine bedrückende Stille liegt über ihnen: Die eine schaut, die andere arbeitet hartnäckig weiter. Nach einigen Minuten sieht es ganz danach aus, dass die Brustwarze ein erstes Tröpfchen Milch absondert. Und dann noch eines. Schwester Rinat fängt einen Tropfen nach dem anderen mit dem Reagenzglas auf. Sie sagt etwas über den Apparat und die Tuben, dann quetscht sie weiter. Schneider, die Mutter von schweigt.
»Was Sie da jetzt in Ihren Brüsten haben, das nennt man Kolostrum, das ist Gold wert«, sagt Schwester Rinat, »die goldene Milch.«
Schwester Rinat schüttelt das Reagenzglas so heftig, dass ihre schlaffen Wangen flattern; das, was Muttermilch sein soll, ist eher eine gräuliche Flüssigkeit, auf der ein Häutchen durchsichtigen Fetts schwimmt. Schneiders Stirn ist noch immer vor Schmerz verkrampft.
»Das geht vorbei. Hauptsache, es kommt was raus. Sie haben Glück, denn manchmal kommt nach einem Kaiserschnitt erst mal gar nichts«, erklärt Schwester Rinat und schnipst dicht vor Schneiders Gesicht mit den Fingern, damit sich der Muskelkrampf löst.
Schwester Rinat holt weitere Reagenzgläser aus einer Schublade hervor. »Machen Sie es so, wie ich es Ihnen gezeigt habe, auf Ihrem Zimmer. Auch wenn Sie nur ein paar Tropfen herausholen, sie sind einige Stunden haltbar, und wir füttern sie dann damit über die Nahrungssonde.«
Und schon ist Schwester Rinat aus dem Zimmer.
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Schneider stapft über den Korridor, den Infusionsständer hinter sich, als plötzlich ein entsetzliches Kreischen die stickige Luft durchschneidet, eine Stimme, wie sie noch nie zuvor aus einem menschlichen Wesen hervorgebrochen ist. Da, wo der Korridor eine Biegung macht, im Lichthof des Neonscheins, haben drei Schwestern in Grün das Mädchen in dem himmelblauen Sweatshirt gepackt. Die Schwestern halten sie an Ärmeln und Kapuze fest, sie kann sich kaum regen. Das Mädchen windet sich, streckt sich zur Form eines Pfeils, dessen Spitze auf Zimmer 1 weist. Schneider, die Mutter von beobachtet durch das durchsichtige Fenster, wie ein grüner Tintenfisch aus Schwestern und Ärzten mit unzähligen rudernden Tentakeln den riesigen Inkubator umschwirrt. Sie versetzen dem Frühchen Stromstöße, eins, zwei, drei. Schwester Smadar kommt aus dem Zimmer. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht, das müssen Sie uns glauben«, hört Schneider sie zum Mädchen im himmelblauen Sweatshirt sagen.
Glaubt denn hier überhaupt jemand etwas? Und was, wenn nicht?
Schneider verordnet sich selbst, den Anblick, wie sie dem Frühchen Stromstöße gegeben haben, damit es am Leben bleibt, sofort zu vergessen. So eine winzige Kreatur. Was für ein kleines Körperchen. Und sie begreift, dass sie sich wie ein Glückspilz fühlen sollte. Das Aufflackern einer Erkenntnis, die aber sofort wieder vom weißen Wal der Angst verschlungen wird.
Schneider, die Mutter von sollte sich jetzt entweder Sorgen um die Zukunft machen oder zufrieden sein, dass ihr Mädchen trotz allem am Leben ist. Aber sie verspürt weder Sorge noch Freude. Sie hat kein eindeutiges Gefühl, nur eine unbestimmte Ahnung.
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