»Das war Tacheles, sie hat recht«, fasste Gal die Konferenz zusammen. Sie sackte in sich zusammen. Jonatan starrte sie an. »Meiner Meinung nach geht es hier gar nicht um die Anzeigen«, sagte sie, während Jonatan sich betont langsam vor ihr anzog, sein Hemd zuknöpfte, den Rücken streckte, seine Brustmuskeln spielen ließ, ohne sie aus den Augen zu lassen. Eine lebendige Werbeanzeige. »Wie meinst du das?«, fragte Aviad.
Sie zuckte mit den Schultern, wollte schon zu einem Plädoyer ansetzen, klarstellen, dass sie keine Wahl hatten, doch der Spalt zwischen Jonatans Lidern wurde von Sekunde zu Sekunde schmaler und schmaler. »Was an Geld hereinkommt, ist das eine, wie viele Anzeigen, das andere. Konzentrieren wir uns doch einfach auf das Geld, das reinkommt. Das ist das Wichtigste«, sagte sie.
»Schon wieder du und dein buddhistischer Schmu. Weil das Denken die Wirklichkeit bestimmt, ja?«, fragte Gal. Sie wies darauf hin, dass ihre Argumentation in diesem Punkt absolut wissenschaftlich sei, so unzweifelhaft wie der Schnurrbart von Schrödingers Katze, aber ihre Kollegen schienen nicht überzeugt. Als sie das Gespräch beendete, sagte Jonatan vorwurfsvoll: »Du nimmst deine Arbeit nicht mit? Leere Versprechungen.« Er verdrehte die Augen und verließ das Zimmer. Das neue Zimmer war deprimierend. Kleiner, Standardausstattung. Eine Holzdecke ohne einen von diesen Kronleuchtern mit Tentakeln, die denjenigen, der ihn anblickt, auf den Meeresboden des Schlafes ziehen. Als sie die Koffer auspackte, musste sie feststellen, dass sie ausgerechnet die Gesichtsseife vergessen hatte. Sie fühlte sich mies.
Abends gingen sie in »Harry’s Bar« zum Essen. Selbst Jonatan konnte sich dafür begeistern, weil sie ihm erzählte, dass Orson Welles immer hierhergekommen war und das Lokal noch immer einem Sohn oder Enkel von Giuseppe Cipriani gehörte, dem Erfinder des Carpaccio. »Wer ist dieser Harry eigentlich?«, überlegte er. Das Lokal lag in unmittelbarer Nähe zu ihrem Hotel; unterwegs kamen sie an den vier Pferden vorbei, die aus dem Hippodrom in Konstantinopel entführt worden waren, und es schien, als würde eines von ihnen sie mit seinem funkelnden, rubinroten Auge verfolgen. Sie blieb neben einem Schaufenster von Missoni stehen, überschlug, ob sie genug Geld für das Kleid mit dem Zickzack-Muster hätte. Im Grunde schon, aber es war das Geld, das sie beide für ihre Flitterwochen geschenkt bekommen hatten, es war für gemeinsame Unternehmungen bestimmt, nicht für materiellen Firlefanz.
Die Bar selbst lag im ersten Stock. Zwei junge, hübsche Männer standen hinter dem Tresen und mixten Getränke. Auch der Bellini war Giuseppes Erfindung, oder zumindest hatte er den Namen des Getränks geprägt. Ein großes Schild wies darauf hin, dass Fotografieren verboten sei und: »Dreitausend Bellinis werden hier täglich serviert.« Ein Bellini kostete fünfzehn Euro und kam in einer schmalen Schale, garniert mit genau acht Oliven. Das Getränk hatte dieselbe Farbe wie die Gewänder der Heiligen auf den Gemälden irgendeines Bellini aus der Renaissance, daher sein Name.
Sie stiegen die Treppen zur zweiten Etage hinauf, wo sich das Restaurant befand. Arrigo Cipriani selbst stand neben einem antiken Teewagen am Eingang, ein kleiner, geschrumpfter Greis in elegant geschnittenem Streifenanzug, und drückte den Gästen die Hand. Er wechselte zwei Worte mit ihnen. Er trug den Namen des traditionsreichen Restaurants. Arrigo freute sich, dass sie auf Flitterwochen hier waren. Seine, so erzählte er, hatten er und seine Frau im Konzentrationslager Dachau verbracht. Bevor sie ihn nach dem Grund fragen konnten, schwebten Kellner in weißen, gebügelten Jacketts wie Möwen herbei und trugen sie auf ihren Schwingen mit sich fort. Man brachte sie zu einem Tisch für zwei mit funkelndem Silberbesteck und direkt neben dem Fenster, vor dem die Piazza in ihrer ganzen Pracht erstrahlte.
Am Tisch links von ihnen saß eine amerikanische Familie. Der etwa sechsjährige Sohn trug dasselbe blau-weiße Matrosenhemd wie sein Vater, das Mädchen akkurat geflochtene Zöpfe und ein geblümtes Lilly-Pulitzer-Kleid. Die Mutter trug ein Twinset aus feinem Cashmere und das Haar geglättet, die heugelben Strähnchen waren zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft, der ihren markanten Kiefer gut zur Geltung brachte. Der Vater zerlegte mit Expertise einen Hummer, und die Kinder verknoteten sich die Hände bei dem Versuch, die Pasta-Streifen, wie es sich gehört, mit Gabel und Löffel zu Nestern aufzurollen.
Rechts von ihnen saß ein greises Paar, mit silbernem Haar, die runzligen Hände innig ineinander verschlungen. Sie malte sich aus, wie Jonatan am Ende um die Rechnung bitten und Arrigo ihm dann sagen würde, das sei nicht nötig, die beiden Alten hätten bereits für sie bezahlt. »Wir haben in unseren Flitterwochen auch hier gegessen«, würden die Alten sagen, ihnen warmherzig zulächeln und hinzusetzen: »Und jetzt feiern wir goldene Hochzeit.« Was für ein gutes Omen für die Zukunft das wäre.
Während sie ihre Vorspeise aßen (Carpaccio natürlich, das ihrer Meinung nach göttlich schmeckte und das Jonatan »richtig super« fand), betraten drei Frauen das Restaurant, »die Komtessen, geradewegs aus einem Film von Visconti«, wie er bemerkte. Die erste, um die vierzig, trug einen prächtigen Haarturm und ein noch prächtigeres Dekolleté. Sie küsste Arrigo unter dem Geklirre dunkler Ketten und Kreuze und mit schmatzenden Lippen auf beide Wangen. Ihr Kleid bestand aus Schichten fester, schwarzer italienischer Spitze, das Witwenmodell von Dolce & Gabbana. Die zweite Frau trug exakt dieselbe Garderobe, nur ohne Dekolleté, und da sie mager war wie ein Skelett, wirkte sie wie ein junges Mädchen, das sich mit den Kleidern ihrer Mutter aufgedonnert hatte, wären da nicht die Falten an ihrem Hals gewesen. Sie sah der ersten Frau sehr ähnlich, doch die Jahre und Sorgen hatten ihr Gesicht gezeichnet. Schwestern, schlussfolgerte sie, oder vielleicht auch Mutter und Tochter. Die dritte war tatsächlich noch ein Mädchen, um die sechzehn, mit rosigen Wangen, in einem roséfarbenen Chanel-Kostüm und mit einem weißen Hündchen, das sie wie eine Handtasche unterm Arm trug. Die drei setzten sich an den runden Tisch in der Mitte, und das Hündchen wurde mit einem eigenen Stuhl beehrt.
Während die Komtessen Bellinis hinunterkippten und Jonatan mit den Hummerzangen ihres Hauptmenüs kämpfte, guckte das Hündchen über den Rand des Stuhls, verfing sich dabei in der um die Tischbeine gewickelten Leine und schwebte so einen Moment zwischen Himmel und Erde. Das Mädchen sprang sofort auf, um ihm zu helfen, verlor dabei das Gleichgewicht und brach in hysterisches Geschrei aus. Die Kellner eilten zu Hilfe, doch Jonatan kam ihnen zuvor, streckte seinen langen Arm aus, rettete das gurgelnde Hündchen und die Situation. Die Komtessen klatschten begeistert in die Hände und jubelten laut. Die beiden Älteren erhoben sich, küssten Jonatan auf beide Wangen und gestikulierten, sie sollten sich doch zu ihnen an den Tisch setzen. »Der Tod in Venedig, aber wirklich«, flüsterte er ihr zu, stand auf und folgte der Einladung. »Wir haben hoffentlich Ihr Gespräch nicht gestört, oder?«, sagte eine der Komtessen in gebrochenem Englisch. »Nein, wir reden nicht so viel miteinander in letzter Zeit«, erwiderte Jonatan, während die Kellner den restlichen Hummer an den Tisch hinüberbrachten, woraufhin die greise Komtesse ihm zeigte, wie man die Zangen richtig packen musste.
Als sie am anderen Morgen aufstand, lagen ihre Kleider noch immer im ganzen Zimmer verteilt, sie hatte ausgepackt, aber nichts in den Schrank gehängt; das puderfarbene Satinkleid war völlig zerknittert. Sie hatte die Kleider extra für die Flitterwochen gekauft und monatelang in der brennenden Erwartung geschont. Ihre Flitterwochen, darauf hatten sie sich geeinigt, würden großartig werden. Sie konnte sich nicht erinnern, was genau sie vergessen hatte, einzupacken, aber sie war sich sicher, dass etwas fehlte. Der Ausschlag unter dem Ring kratzte wieder. Da musste schnellstens eine Creme drauf.
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