Er dachte an seinen im Hotel zurückgebliebenen Sohn, fragte sich, ob es für Pietro besser wäre, wenn er ohne Vater aufwüchse, ob er ihr fehlen würde, ob sie weinen würde.
Reglos starrten sie einander an, rührten sich nicht, die Zeit dehnte sich, während Ettore bewusst wurde, was Schrecken bedeutete. Er sah, wie das Bärenjunge zu der Bärin tapste und sich nun ebenfalls brüllend aufrichtete, doch dieses Gebrüll war nicht furchterregend, und Ettore musste lachen angesichts der beiden Bären, des Waldes, seiner Unternehmung, die sich als verrückt und herrlich erwiesen hatte, angesichts des Himmels, der aussah, als hätte er das Gewitter, den Regen und den Donner vergessen, und der Vision von ihr, wie sie im Bett lag, und der Sehnsucht, ein letztes Mal ihre Stimme zu hören.
Er lachte und entdeckte, dass er nicht mehr aufhören konnte, lachte, bis sich die Bären wieder auf ihre Vorderpfoten fallen ließen, bis sie schließlich an ihm vorbei davontrotteten und im Wald verschwanden. Da schloss er die Augen, und dabei sah er sie, sah, wie schön sie war trotz des Fiebers, wie schön sie war mit ihren dicken Wollstrümpfen, während sie sich durchs Haus schleppte in dieser Maiwoche, die schon nach Sommer duftete, er sah sie und sah, wie sie ihn küsste, ihn anlächelte, streichelte, seine Hand drückte, er sah sie und hörte sie, hörte ihre Stimme, ihr Gebrumm vor dem Einschlafen.
Er fühlte die Wärme ihrer Haut und die Weichheit des Nachthemds unter seinen Fingern, er fühlte ihre Körper, die sich umarmten und drückten, die Küsse, die er ihr gegeben hatte, er roch den Duft des Frühstücks, das er zubereitet hatte, da er als Erster aufgewacht war, und er fühlte das alles auch noch, als er die Augen wieder öffnete und die spielenden Tiere da liegen sah, nur zwei, in der gleichen Position, in der er sie gesehen hatte, bevor er ausrutschte und mit dem Kopf aufschlug.
Rückwärts ging er denselben Weg, der Abstieg bereitete ihm keine Mühe, er rannte beinahe, stolperte und fiel nicht hin, die Füße trittsicher auf den rutschigen Felsen, die Düfte, die das Gewitter geweckt hatte, das Moos auf den Stämmen, die Beeren, die er vorher nicht bemerkt hatte, die aufblühenden Blumen und das Grün der Blätter in der Sonne, die jetzt prall und heiß war, wie sie immer hätte sein müssen.
Er ging ohne Müdigkeit, lief unter dem Blätterdach hinunter bis zu dem Steig, der ihn auf diesen Pfad geführt hatte; es war später Nachmittag, die schon fernen Wolken färbten sich lila im Sonnenuntergang, zusammen mit den Wäldern rundherum und dem Wasser des Sees, in dem sie sich verschwommen spiegelten.
Er erreichte das Hotel und trat ein.
Pietro saß mitten im Esszimmer auf dem Boden, in seine Spiele vertieft. Die Frau sah Ettore und lächelte, er blickte sie an und schüttelte verneinend den Kopf, dann zog er die Stiefel aus und betrachtete erneut seinen spielenden Sohn.
Tropfnass ging er die Treppe zum Zimmer hinauf, hinterließ eine Wasserspur auf dem hellen Parkett, steckte den Schlüssel ins Türschloss und setzte sich aufs Bett und merkte gar nicht, dass die Matratze feucht wurde, es störte ihn nicht, er fühlte keinen Schmerz, er fühlte nichts, nur, dass er hier saß, mit dem Telefon in der Hand, dass er die Nummer wählte, anrief und niemand antwortete.
ETTORE TRINKT SEINEN KAFFEE AUS, wäscht im Spülbecken die Tasse ab und wendet sich zum Kinderzimmer, wo Pietro immer noch weint. Er umgeht die Spielsachen auf dem Boden, hebt manche auf, räumt andere weg, schaut den Flur entlang und endlich in das Zimmer. Pietro hat die Augen zu und sieht ihn nicht.
Ettore hält inne und betrachtet seinen Sohn, die Gesichtszüge, die zur Faust geballten Hände, die nach oben gestreckten Arme, die Beine im Laken gefangen, aus dem er sie nicht befreien kann, die vor Wut gerötete Haut; er beugt sich zu ihm hinunter und hebt ihn sanft hoch.
Pietro öffnet die Augen, sieht seinen Vater und hört zu weinen auf, öffnet die Hände und greift nach Ettore Gesicht, der lächelnd leise mit ihm spricht und sagt, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.
Sie gehen ins Bad, und das durch die pastellfarbenen Vorhänge fallende Licht färbt die Wände, die sie unbedingt blau streichen wollte, die getrockneten Lavendelblüten neben dem Spiegel.
Er setzt das Kind auf die Wickelkommode, still ist es jetzt im Haus, und draußen, in Fabbrico, scheint sich nichts zu rühren, durch die Fenster kommt kein Geräusch herein, es gibt nur sie beide, Ettore und Pietro, der sich ohne einen Laut die Windeln wechseln lässt, ab und zu ein wenig strampelt, sich waschen lässt und mit den Händen fuchtelt, um die Dinge zu greifen, die er sieht, die Zahnbürsten, immer noch zwei, das Parfüm von ihr, das noch hier steht.
Immer noch lächelnd, steigen sie ins Auto, machen Späße, das Kind streichelt den Schnauzbart seines Vaters, die Sonne ist prall, und die bauschigen weißen Wolken am Himmel scheinen über einem bergigen Horizont heraufzuziehen. An der Bar machen sie halt, Bice reicht dem Kind eine Brotrinde, es lächelt und beginnt zu knabbern, während Ettore im Stehen an der Theke ein Stück Mangoldtorte verzehrt.
Pass auf, sagt er, während er Pietro mit seinem Krümelmund betrachtet.
Auf einer dieser Straßen, die er auswendig kennt, fahren sie aus dem Dorf hinaus, Straßen, die er schon in allen Lebenslagen gefahren ist, die ihn zu ihr brachten, als sie noch ein Liebespaar waren, bevor sie zusammenzogen.
Er sieht die Häuser und die Gärten, sieht das Kind, das auf die an den Zäunen rankenden Blumen zeigt, die dunkelgrün leuchtenden Hecken, die in der nun hoch stehenden Sonne zu schwitzen scheinen. Gleich nach dem Ort beschleunigt er, Pietro ist neugierig, reckt den Hals, betrachtet aus dem Autofenster die Häuser und Felder. Ettore dagegen achtet nicht darauf, er fühlt nichts auf dieser Strecke, er wohnt nicht mehr gerne dort, denkt zurück an die Wälder, die frische, saubere Luft, die man auf den einsamen Wanderungen im Gebirge atmete.
Die Schwiegereltern sind umgezogen, sie wohnen jetzt in einem Reihenhaus gleich außerhalb des Dorfs, das Viertel rundherum dehnt sich mitten auf dem Land aus, es ist ganz neu und ganz sauber.
Er parkt im Hof, gegenüber vom Eingang, neben dem Auto der Schwiegereltern, das vor der Garage steht. Vor dem Aussteigen hupt er.
Zuerst erscheint nicht Ester, sondern Livio, er schaut heraus, öffnet die Tür und läuft ohne ein Wort strahlend auf das Auto zu, auf Pietro, der ihn sieht und genauso lächelt wie sein Großvater, kindlich.
Livio beugt sich zum Fenster, lächelt weiter, und das Kind, schon nervös vom Warten, streckt seinem Großvater, der ihn immer noch bewegungslos anschaut, die Hände entgegen; es quengelt, und Ettore, der die Szene im Rückspiegel beobachtet, stellt sich vor, dass Pietro, wenn er könnte, zum Großvater sagen würde, lass mich sofort aussteigen, mach dich nicht über mich lustig.
Endlich öffnet Livio die Autotür, und auch Ettore steigt aus, jetzt stehen sie im Hof, der Großvater hat das Kind auf dem Arm und lacht, sie lachen zusammen, und auch Ettore lacht mit und hört ihrem Gebrabbel zu, bis er Livio sagen hört, komm, in der Garage habe ich ein Geschenk für dich, es ist eben fertig geworden.
Ester hat hinten im Garten gedeckt, im Haus ist es kühl, die Rollläden sind heruntergelassen, die Gardinen zu. Nach dem Eintreten überläuft Ettore ein Schauder, er wünschte, jemand brächte ihm bei, wie auch er sein Haus kühl halten kann. Alte Fotos stehen herum, Ester und Livio, die sich auf einem Bootssteg umarmen, der, könnte man meinen, ins Meer ragt, doch vielleicht ist es nur ein Fluss. Die beiden gehören einer Generation an, die nicht reist, die daheimbleibt und für die die Welt ein kleiner, enger Ort ist.
Es gibt Fotos von Pietro gleich nach der Geburt, er hat ein blaues Mützchen auf, die Augen geschlossen. Die Bilder, auf denen sie, Pietros Mutter, ihre Tochter, dabei war, sind verschwunden, versteckt, nicht mehr da.
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