Und als ich dann an die Charité kam und hier an diesem Institut begonnen habe, Medizinstudenten zu unterrichten in Epidemiologie und Sozialmedizin, da fiel mir auf, was hier alles fehlt, und dass man sich in Deutschland jahrzehntelang dagegen gewehrt hat, das überhaupt Sozialmedizin zu nennen, wie das in anderen Ländern üblich ist. Die Sozialhygiene bzw. Sozialmedizin entstand ja in Deutschland. Alfred Grotjahn (1869–1931) war der Begründer der Sozialhygiene, er hatte 1920 hier an der Charité den ersten sozial-hygienischen Lehrstuhl. ( Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Grotjahn zugleich weitgehende rassehygienische und eugenische Vorstellungen in seinen Schriften äußerte. Anm. G.G. ) Von ihm ist auch die Forderung: »Übernahme des gesamten Heil- und Gesundheitswesens in den Gemeinbetrieb unter Beseitigung jeglicher privatkapitalistischer Wirtschaftsform«. Die Nazis haben die Sozialhygiene dann missbraucht, sie haben sie über die Eugenik zur Rassenhygiene gemacht. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich dann keiner mehr getraut zu sagen, ich kümmere mich um die Gesundheit der Bevölkerung.
In der DDR war das anders. Im Westen wurde gesagt, das macht der Staat nicht mehr, das wird sozusagen ins marktwirtschaftlich kapitalistische System eingetütet. Man hatte sich verabschiedet von Infektionskrankheiten, es ging nur noch um Krebs und Diabetes. Erst in den 80er Jahren hat man gemerkt, wir haben gar keine Experten mehr, und da hat man angefangen, junge Leute ins Ausland zu schicken, z.B. Karl Lauterbach, auf ein Regierungsstipendium zum Studium von ›Health Policy and Management‹ und der Epidemiologie an der Harvard School of Public Health in Boston. Diese Leute sollten die modernen Ideen von Public Health hier wieder reetablieren. Das Ganze war sehr befeuert durch HIV/Aids, in dem man wieder so was wie eine große Volksseuche befürchtet hat. Mit den Behandlungsmöglichkeiten hat sich dann aber das Interesse wieder verloren.
Es lag für mich nahe, mich an diesem Institut mit dem Thema Pharmaindustrie auseinanderzusetzen. Wir befassen uns mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Gesundheit von Menschen, da guckt man natürlich zuerst mal in die armen Länder. Aber ich stellte fest, auch in Deutschland gibt es viele Arme. Und da fragte ich mich, welche Verantwortung haben eigentlich Ärzte für arme Menschen? Die sollten sich positionieren. Was für eine Rolle spielt die Pharmaindustrie? Genau in dem Moment kamen Kollegen von der Organisation Health Action International – einer Dachorganisation vieler Organisationen, die sich kritisch auch mit der Pharmaindustrie auseinandersetzen – und die hatten ein Handbuch zusammengestellt, gemeinsam mit der WHO, zum Thema: verstehen und reagieren auf Werbung und Beeinflussungen der Pharmazeutischen Industrie. Sie kamen auf mich zu, weil ich mit Health-Action-International-Leuten mal zu tun hatte.
Da geht es um ein ganz zentrales Thema, nämlich darum, zu lernen, die Strategien erst mal zu erkennen und zu durchschauen, damit man ihnen dann auch widerstehen kann. Diese Herausforderung ist ja leider nicht Teil des medizinischen Curriculums. Mit dem Thema endlich mal an den Universitäten anzufangen, darüber Studierende der Medizin zu informieren, das war der Gedanke. Ich hab dann mal geschaut, wer befasst sich in Deutschland eigentlich generell mit dem Thema, habe einige eingeladen und gesagt, ich würde gern ein Seminar anbieten, würdet ihr da mitmachen, eure Expertise einbringen, wie könnten wir das umsetzen auf deutsche Verhältnisse? So haben wir angefangen vor dreieinhalb Jahren. Inzwischen ist es ein Wahlpflichtkurs. Das Format des Kurses nennt sich: Grundlagen des ärztlichen Denkens und Handelns. Es zielt speziell darauf ab, dass die jungen Medizinerinnen und Mediziner sich Gedanken über ihr zukünftiges Handeln machen. Es war erstaunlich, die jungen Studierenden haben sehr differenziert darauf reagiert. Anfangs haben wir Rollenspiele gemacht, die Studierenden sollten sich mal vorstellen, was würde ich fragen, wenn ich Arzt wäre, was würde ich sagen, wenn ich Pharmavertreter wäre?
Auch die Pharmaindustrie schult übrigens ihre Vertreter. Es gibt Lehrbücher der Meinungsmanipulation für Pharmavertreter. Unsere Rollenspiele sind zwar prima angekommen, aber auf so einem Level, da gibt’s zwar viel Interaktion, aber wenig Input. Es wurde auch gesagt, ist klar, ihr seid hier gegen Pharma, aber wir wollen keiner Gehirnwäsche unterzogen werden. Das war natürlich nicht unser Ziel, wir haben dann in den darauffolgenden Semestern die Anmerkungen der Studierenden ernst genommen und das Format zunehmend problemorientierter aufgestellt, interaktiver. Sie hatten z.B. vorgeschlagen, auch mal einen Pharmavertreter einzuladen, um auch die andere Seite zu hören. Das fand ich völlig legitim. Ich habe dann über mehrere Semester versucht, einen zu finden, der bereit gewesen wäre, aus seinem Arbeitsalltag zu berichten. Wir hatten dann auch ein paar Mal eine Zusage bekommen, aber alle haben in letzter Minute abgesagt. Dann haben wir uns entschieden, einen hervorragenden Kollegen zu bitten, Thomas Lindner, einen niedergelassenen Arzt, der sich vor Jahren entschieden hat, bei der ›Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte‹ mitzuarbeiten – sie nennt sich ›Mezis‹, eine Abkürzung für: ›Mein Essen zahl ich selbst‹. Er ist übrigens einer der Mitbegründer. Der kann den Studierenden einfach aus seiner Perspektive erzählen, aus langjähriger Erfahrung mit Pharmavertretern, warum er ihre Besuche eines Tages nicht mehr wollte. Er hat sich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt.
Das finde ich einen wesentlich spannenderen Ansatz, als wenn jetzt ein Pharmavertreter sich hinstellt und seine Tätigkeit schönredet. Wir haben hier sechzehn Veranstaltungstermine, also nicht viel Zeit, um eine ganz spezifische Seite der Medaille oder des Arztseins darzustellen. Viele Studenten gehen ja noch mit ziemlich idealistischen Vorstellungen vom Arztberuf und von sich selbst ins Studium. Wenn ich denen sage: Also wenn Sie mein Patient sind, dann erwarten Sie von Ihrem Arzt doch, dass es ihm um Ihre Krankheit geht, und ausschließlich um deren Behandlung. Dass Sie das richtige Medikament bekommen, in der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt, und dass dieses Medikament einen vernünftigen Preis hat. Die Studenten verstehen die Frage nicht, weil sie das erst mal für selbstverständlich halten. Dass den Arzt auch andere Motive leiten könnten, dass es viele Verlockungen gibt und gut dotierte Nebentätigkeiten, ist nicht in ihrem Bewusstsein.
Desillusionierung ist zwar nicht unser Ziel, aber sie ist unvermeidlich. Wir sind in einer Welt angelangt, wo diejenigen, die die Medikamente herstellen, das ja nicht tun, weil sie die Interessen der Patienten im Vordergrund haben oder die der Ärzte. Sie haben andere Prioritäten, ihre Aktionäre sind ihnen wichtig, ihre Managergehälter, ihr Profit. Wir haben es im Gesundheitssystem immer mehr – und bei der Pharmaindustrie sowieso – mit den Renditeerwartungen der Aktionäre zu tun und da zählt eben nur: den Gewinn erhöhen, die Kosten reduzieren und verkaufen! Dass sich das Marketing der Pharmafirmen so stark auf die Ärzte konzentriert, liegt daran, dass die Konzerne hierzulande kaum Einfluss auf Patienten nehmen können. Werbung darf – im Gegensatz z.B. zu den USA – nur für nicht verschreibungspflichtige Präparate gemacht werden. Und deshalb eben geht es bei den Arzneiverschreibungen der Ärzte um riesige Summen.
Und was bedeutet das für Patienten und Ärzte?
Wie kann man sicherstellen, dass die Patienten genau die Therapie bekommen, die notwendig ist, also unter dem Gesichtspunkt: ›Rational medical Treatment‹?! Das ist nicht leicht zu vermitteln, denn es ist vergleichsweise nicht viel, was wir diesen mächtigen Interessen entgegensetzen können. Aber wir haben einen Anfang gemacht. Wir sehen es in den Seminaren, es scheint zu funktionieren. Anfangs, da waren die Studierenden schon etwas älter, konnten schon viel mitreden und hatten z.T. eine kritische Haltung gegenüber der Pharmaindustrie. In den letzten paar Semestern haben wir immer sehr junge Studierende gehabt, unter zwanzig, ganz frisch, ohne jede Idee. Vollkommen naiv, wenn man es negativ ausdrücken will. Andererseits, sie waren kaum vorbelastet, und ich habe immer den Eindruck, die Lernkurve von denen ist steil ansteigend, die machen richtig leidenschaftlich mit, das macht schon Spaß! Und ich freue mich, dass Transparency International/Deutschland jetzt auch regelmäßig einen Vertreter ins Seminar schickt, den Mediziner Wolfgang Wodarg. Transparenz ins Gesundheitssystem reinbringen, das ist immens wichtig!
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