Und so ist man letztlich nicht viel schlauer als am Anfang: Wer sein Auto erfolgreich gegen einen Baum steuert, sich und seine Familie im Krankenhaus behandeln und wieder auf die Beine stellen lässt und ein neues Auto kauft, hat bekanntlich das Sozialprodukt vergrößert. Aber den Slogan: »Die Wirtschaft lahmt, Autofahrer! Auf die Bäume, fertig, los!« wird niemand als Wirtschaftspolitik verkaufen wollen.
Ein »Erfolgsmaßstab«, der solchen Unsinn zwangsweise in sich trägt, ist sicher mehr als zweifelhaft. Undifferenziert das Wachstum dieses so schlecht definierten Sozialprodukts zum politischen Ziel zu erklären, ist also eigentlich schon eine Ohnmachtserklärung. Nur: Wenn man das Sozialprodukt als Maßstab verwirft, wie will man dann den »Erfolg« eines Wirtschaftsjahrs in einer Volkswirtschaft messen?
Da es auf diese Frage keine klare Antwort gibt, streben alle Volkswirtschaften dieser Welt unter dem Motto »Wachstum für Wohlstand und Arbeitsplätze« unbeeindruckt der Erhöhung des Sozialprodukts nach. »Jetzt wird in die Hände gespuckt, wir erhöhen das Bruttosozialprodukt!« hieß es in einem Song Anfang der 80er Jahre. Und je kräftiger man in die Hände spuckte, je größer das Wachstum dieses merkwürdigen sozialen Produkts im Jahre war, desto mehr wurde die Wirtschaft eines Landes gelobt, als desto »erfolgreicher« galt sie – verglichen mit anderen Volkswirtschaften, denen nur ein geringeres prozentuales Wachstum gelungen war.
Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum:
Hoffnung auf »trickle down«, durchsickern
Der neoliberalistische Ansatz sieht in der Vermischung von Aufwand und Erfolg im Sozialprodukt kein großes Problem. Er geht davon aus, dass durch die ungehinderte Entfaltung des Kapitals automatisch Massenwohlstand in der Welt entsteht. Was heute den Reichen nütze, komme morgen den Armen zugute (trickle down-Effect) 39. Stimmt das?
Diese These kann sich auf eine geschichtliche Erfahrung stützen. Aus dem krassen Gegensatz zwischen dem Reichtum der Produzenten und der Armut des Proletariats im 19. Jahrhundert entstanden schließlich die europäischen Sozialstaaten und das »reiche Amerika«.
Doch welch gewaltige politischen Anstrengungen waren historisch notwendig, um dieses Resultat herbeizuführen! Funktioniert »trickle down« dagegen auch ganz von allein in einem freien Weltmarkt? Wirkt es weltweit? Und: Geht es auch schnell genug – denn die Bevölkerung der Erde wächst und wächst! Die Trompeter des Liberalismus in internationalen Organisationen 40und in der Presse 41verkünden Tag für Tag: Alles ist auf dem besten Wege. Die derzeitigen Probleme sind nur der unvermeidbare Preis eines für alle profitablen Übergangs, sind »schöpferische Zerstörung« und damit nach den Lehren Schumpeters geradezu notwendig. Doch so ist es nicht. Stiglitz beschreibt aus seiner Kenntnis als Berater Präsident Clintons und seiner Tätigkeit für die Weltbank die Realität so:
»Die Geschichte der letzten fünfzig Jahre hat diese Theorien und Hypothesen jedoch nicht gestützt … ostasiatische Länder – Südkorea, China, Taiwan, Japan – [zeigten], dass … schnelles Wachstum ohne eine beträchtliche Zunahme der Ungleichheit erreicht werden kann. Die Regierungen in der Region ergriffen gezielte Maßnahmen, um sicherzustellen, dass … sich Lohnungleichheiten in Grenzen hielten und dass alle in den Genuss grundlegender Bildungschancen kamen.« 42
Eigentlich sollte man doch annehmen, dass die Methoden, mit denen die erfolgreichsten Volkswirtschaften dieser Erde gearbeitet haben, studiert werden, um zu lernen, wie man besser vorankommt. Der Akzent einer solchen »Ostasiaten-Wirtschaftspolitik« müsste dabei offensichtlich auf der Frage der Nettoeinkommen der abhängig Beschäftigten liegen.
Wirtschaftsziel »Wachstum der Nettorealeinkommen der abhängig
Beschäftigten« statt Wachstum des Bruttosozialprodukts?
Fast 90% aller Erwerbstätigen in der BRD sind Arbeitnehmer. 43Am Volkseinkommen sind sie mit rund 73% beteiligt. 44Der Gedanke liegt deshalb nahe, anstelle des Sozialprodukts die Einkommen dieser Arbeitnehmer zum Maßstab für Erfolg oder Misserfolg einer Wirtschaftspolitik zu machen. Und, wenn man Wohlstandseffekte messen will, die Nettorealeinkommen.
Einwand: Dieser Maßstab lässt die Arbeitslosen außer Betracht. Eine Gesellschaft, die einer »Arbeiterelite« hohe Einkommen bietet und große Teile der Arbeitsfähigen auf die Straße setzt, erscheint dann besser als eine Gesellschaft mit Vollbeschäftigung und eventuell geringfügig niedrigeren Löhnen.
Um diesen Fehler zu vermeiden, müsste man das durchschnittliche Nettorealeinkommen aller Arbeitenden und arbeitssuchenden Arbeitslosen zum Maßstab machen. Sozialleistungen für letztere Gruppen müssten dabei unberücksichtigt bleiben.
Wenn das Wirtschaftsziel nicht mehr Wirtschaftswachstum, sondern Steigerung der Einkommen, und zwar der Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten, würde, dann wäre auch jede einzelne wirtschaftspolitische Maßnahme an diesem Maßstab zu messen.
Wäre man in den letzten 30 Jahren in der Bundesrepublik nach diesem Maßstab verfahren, so hätte man das Abnehmen des »Wohlstandswachstums« schon in den 70er Jahren konstatieren müssen. Man hätte auch bemerkt, dass alle getroffenen »Wirtschaftsförderungsaufwendungen« nur eines bewirkten: Sie begleiteten das ehemals erfreuliche »Wohlstandswachstum« (der durchschnittlichen Nettorealeinkommen) auf dem Weg in Nullwachstum – bis es sich in den 90er Jahren dann in negatives »Wachstum« verwandelte. Am deutlichsten würde dieses Versagen, wenn man die 4–4,5 Millionen Arbeitslosen mit ihrem Arbeitsverdienst »o« in diesen Durchschnittsverdienst mit einrechnete. Denn dann ergäbe der so errechnete »durchschnittliche Nettorealverdienst«, der schon nach der klassischen Berechnung seit Jahren leicht sinkt, noch um 10–12% niedrigere Werte. 45So berechnet hätte er im Jahre 2000 statt beim Dreifachen des Wertes von 1950 nur beim 2,6-fachen gelegen (wie die grüne Linie in Grafik C auf dem Lesezeichen und die Sternchenlinie unten auf S. 32 zeigen. Das entspräche einem Rückgang etwa auf das Niveau von 1969/70.
Einkommenschancen im Wandel
Wovon hängt das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft ab?
Ein sehr interessanter Ansatz findet sich wieder bei Meinhard Miegel:
»Politiker und Professoren, Lehrer und Polizisten, Schauspieler und Musiker, Busfahrer und Köche, Bademeister und Masseure und viele andere leisten beispielsweise in Deutschland und Polen so Unähnliches nicht. Aber … warum kann für einen Haarschnitt in Düsseldorf mit Erfolg das Zehnfache verlangt werden wie in Danzig? Die immer gleiche Antwort: Weil in der einen Volkswirtschaft viel und in der anderen wenig Wissen und Kapital die Produktivität antreiben.« 46
»Warum verdient ein Busfahrer in Deutschland das Mehrfache von einem Busfahrer in Indien?« Diese alte Miegelsche Frage hat mich stets fasziniert. Seine Darstellung scheint mir in weiten Teilen zutreffend. Aber es bleibt ein Problem: Wenn das Einkommen des Busfahrers nur von den durch Kapital, Wissen und Gestaltungskraft der Unternehmen bestimmten Werten abhängt, warum sinkt dann seit Jahren das Einkommen der Busfahrer 47– obwohl gleichzeitig die Bedingungen für das Kapital durch Steuersenkungen verbessert wurden, die Einkommen der über Kapital Entscheidenden explodiert sind und der deutsche Export zu den noch intakten Teilen der Wirtschaft gehört?
Ein Beispiel von vielen:
»Deutschlands Busfahrer beschleicht in diesen Tagen das Entsetzen: In Eisenhüttenstadt legen sie den kommunalen Verkehrsverbund lahm, weil ihr Arbeitgeber sich mit der angebotenen Lohnsenkung um neun Prozent nicht zufrieden geben will. Das Angebot des Verkehrsverbundes: zwölf Prozent weniger Lohn… « 48
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