Ich bin 17 Jahre alt, 1 Meter 70 groß, mein Körper ist schmächtig. Ich spüre, dass bald eine Entscheidung fällig ist. Mit 17 ist der Profifußball zwangsläufig in Reichweite, wann sonst.
Noch nie ist die U19 des FC Bayern Deutscher Meister gewesen. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass ausgerechnet wir es geschafft haben.
Mit der U19-Nationalmannschaft spiele ich die Europameisterschaft in Norwegen. Meine Eltern reisen zum ersten Mal nach Skandinavien. Sie sind entsetzt, wie teuer hier alles ist.
Wir gewinnen unsere Gruppe, ich steuere ein Kopfballtor gegen England bei, dann stehen wir im Finale. Im Finale – das einzige Spiel, in dem ich nicht aufgestellt werde – treffen wir auf Spanien und verlieren 0:1. Torschütze: ein gewisser Fernando Torres. Es wird Momente in meiner Karriere geben, in denen mir dieses Spiel wieder einfällt.
Der Sprung aus der Jugend zu den Profis eines Vereins ist immer schwierig. Im Profifußball gelten andere Gesetze als in den Jugendklassen. Während im Nachwuchs in jeder Saison die Besten des nächsten, jüngeren Jahrgangs nachrücken, besorgen sich die Trainer der Profimannschaften ihre Wunschspieler auf dem Transfermarkt.
Beim FC Bayern ist es besonders schwierig, aus der eigenen Jugend zu den Profis vorzurücken. Für den FC Bayern ist es eine Sache der Klubphilosophie, dass die besten Spieler Deutschlands nach München geholt werden. Ein Spieler aus der eigenen Jugend muss also schon besonders auffällig sein, um seine Chance zu bekommen.
Aber es muss ja nicht gleich beim FC Bayern sein. Mit mir stehen andere Spieler in der Mannschaft, die auch ihre Chance wittern. Piotr Trochowski zum Beispiel, Zvjezdan Misimovic, Markus Feulner, Florian Heller. Mehrere von uns spielen in der Jugendnationalmannschaft. Alle verfolgen konzentriert das Ziel, bessere Fußballer zu werden. Wenn ab und zu in der Lokalpresse ein Artikel über Nachwuchsfußball erscheint, heißt es darin, dass an der Säbener Straße vielleicht eine goldene Generation heranwächst. Damit meinen die uns.
Auf dem Trainingsgelände des FC Bayern gibt es zahlreiche Plätze. Die vorderen, dem Klubgebäude zugewandten sind den Profis vorbehalten. Hinten, weiter weg von den Kabinen, trainieren Amateure und Jugend.
Es kommt immer wieder vor, dass die Profis im Training noch jemanden brauchen. Dann kommt der Assistenztrainer um den Zaun herum und bittet Hermann Gerland, den Cheftrainer der Amateurmannschaft, einen Spieler rüberzuschicken.
Gerland weiß, dass diese Möglichkeit harte Währung für uns ist. Wer bei den Profis mitspielen darf, profitiert gleich doppelt. Erstens kann er sich von Effenberg, Elber & Co. etwas abschauen, zweitens hat er die Chance, beim Cheftrainer ein Gesichtsbad zu nehmen, und wer weiß, vielleicht, eines Tages …
Eines Tages sind bei den Profis gerade einmal sieben Spieler und zwei Torhüter anwesend. Alle anderen sind bei ihren Nationalmannschaften. Ein Assistenztrainer kommt um den Zaun: »Ich brauche einen Spieler, Tiger.« Um zwei gleich große Mannschaften bilden zu können, brauchen sie noch einen Spieler.
Hermann Gerland, den alle den »Tiger« nennen, zeigt auf mich.
Wir spielen vielleicht fünf Minuten fünf gegen fünf, als sich ein Spieler verletzt und in die Kabine muss. Der Trainer sagt Danke zu mir, aber jetzt braucht er mich nicht mehr.
Als ich zurück zu den Amateuren gehe, haben die gerade ein Spiel laufen: acht gegen acht. Der Tiger sieht mich und fragt: »Was machst du hier?«
Ich erzähle, was passiert ist, und frage: »Kann ich mitspielen?«
»Nein«, sagt Gerland. »Wir brauchen gerade keinen.«
Es ist schwer an der Schwelle zwischen Amateuren und Profis.
Eines Tages fragt mich Markus Husterer, ob ich schon einen Berater habe. Markus ist mit 15 zum FC Bayern gekommen. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und sind bis heute befreundet.
»Nein«, sage ich. »Wieso?«
Markus stellt die Gegenfrage: »Kennst du dich mit Verträgen aus? Weißt du, wie viel der Verein für einen Vertragsamateur bezahlt?«
Das weiß ich nicht, und mit Verträgen kenne ich mich auch nicht aus.
Also macht Markus einen Termin mit dem Mann aus, der seit Kurzem sein Berater ist. Wir gehen eine Pizza essen, und ich habe einen ganz guten Eindruck. Der Mann wirkt kompetent und freundlich. Beim nächsten Treffen, denke ich mir, machen wir alles klar.
Am nächsten Tag beim Training erzähle ich einem unserer Betreuer vom Treffen mit Markus’ Berater.
»Aha«, sagt der. »Aber hast du schon mal mit dem Roman geredet?«
Roman, unser Trainer, hat begonnen, junge Spieler zu beraten.
»Ich mach mal was aus für dich. Sprich mit Roman, bevor du deine Entscheidung triffst.«
Ich treffe also Roman. Ihn kenne ich schon lange, ich weiß, wie er über Fußball denkt, wie er Fußball spielen lässt. Zu ihm habe ich Vertrauen, und wir werden schnell einig. Wir geben uns die Hand, dann ist er mein Berater. Einen Vertrag brauchen wir nicht. Bis heute gibt es zwischen uns keine schriftliche Vereinbarung.
Am nächsten Tag rufe ich Markus’ Berater an und sage ihm ab.
Wenig später bessert Roman den ersten Vertrag, den ich noch selbst abgeschlossen habe, für mich nach. Statt zwei Jahre läuft die Vereinbarung jetzt fünf Jahre, ich verdiene mehr als die ursprünglich vereinbarten 1000 Mark im Monat. Von 2002 bis 2004 soll ich bei den Amateuren in der Regionalliga spielen, Option auf drei weitere Jahre bei den Profis.
Natürlich ist dieser Vertrag in erster Linie eine Leitplanke für meine Perspektiven. Aber die Perspektive, Profifußballer zu werden, wird immer konkreter.
Ich habe die Schule mit der mittleren Reife abgeschlossen. Bevor ich jetzt auf einen anderen Beruf losgehe, probiere ich, was im Fußball geht, auch wenn mein wichtigster Lehrer meine Eltern beschwört, mich etwas Handfestes lernen zu lassen.
Nach dem Meistertitel mit der U 19 spiele ich für die Amateure des FC Bayern in der Regionalliga Süd. Der Trainer setzt mich als rechten Verteidiger ein. Mit mir in der Mannschaft stehen Zwetschge Misimovic, Steffen Hofmann, Hansi Pflügler, Markus Husterer, Markus Feulner, Stefan Wessels. Von Zeit zu Zeit stoßen Profis der ersten Mannschaft zu uns, die entweder ihre Form suchen oder nach Verletzungen Spielpraxis brauchen. Ich spiele eine gute Saison, und dann noch eine.
Als ich dann Profi beim VfB Stuttgart bin, meldet sich der Lehrer wieder. Er gratuliert meinen Eltern und entschuldigt sich fast dafür, dass er mein Talent, Fußball zu spielen, nicht richtig eingeschätzt hat.
3. Kapitel
SCHÖN, DASS DU DA BIST
Die erste Saison in der Nationalmannschaft
Nationalmannschaft alt neu – die Rolle des jungen Spielers – wie eine Mannschaft Verantwortung verteilt – warum Deutschland keine guten Freundschaftsspiele spielt – was es heißt, öffentlich verspottet zu werden – was man aus einem verkorksten Turnier lernen kann – was zählt mehr: Niederlage oder gute Leistung? – von wem man echte Bestätigung bekommt – die Kunst, öffentlich Ziele zu setzen
Zu meinem ersten Treffen mit der Nationalmannschaft fahre ich im Februar 2004 mit dem Zug von Stuttgart nach Frankfurt. Ich teile das Abteil mit Kevin Kurányi und Andreas Hinkel. Die jungen Wilden vom VfB Stuttgart haben in der Nationalelf gerade Konjunktur.
Im Hotel treffen wir uns mit dem Stamm der Nationalmannschaft. Christian Wörns ist da, Jens Nowotny, Didi Hamann, Michael Ballack. Und natürlich Oliver Kahn.
»Wahnsinn«, denke ich mir, »der Titan.« Irgendwie jagt mir Oliver Kahn allein durch seine schiere Präsenz einen höllischen Respekt ein. Eigentlich kenne ich ihn ja schon vom Training beim FC Bayern, wenn ich für ein Trainingsspiel von den Amateuren rüber zu den Profis gerufen wurde. Aber da passierte nicht viel mehr als ein höfliches Hallo oder Ciao, und ich versuchte, nichts anzustellen, wofür mich der Titan vielleicht fressen könnte. Jetzt stehe ich mit ihm in der deutschen Nationalmannschaft. Vor sieben Monaten habe ich noch Regionalliga gespielt.
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