Es sind die Jahre, wo viele Jungs, die gut Fußball spielen, beschließen, mit dem Fußball aufzuhören. Das heißt, sie beschließen es gar nicht. Aber sie bleiben zuerst einmal, dann öfter dem Training fern, rufen den Trainer an und sagen, dass sie erkältet sind, um mit den Mädels ausgehen zu können, und irgendwann sind sie so weit von der Seele des Spiels entfernt, dass sie nicht mehr zurückfinden.
Ich kann diese Unsicherheit verstehen. Ich möchte auch gern zum Schwimmen gehen. Aber ich will auch am Fußball dranbleiben. Wenn ich heimlich überlege, ob ich einmal das Training schwänzen soll, muss ich nur bei meinem Ehrgeiz nachfragen. Bleib dran, sagt der Ehrgeiz, wenigstens dieses Jahr, wenigstens, bis du weißt, dass du von der U14 in die U15 mitgenommen wirst.
Den Rest erledigt der Fußball selbst. Sobald ich auf dem Platz stehe, sobald der Trainer uns in zwei Mannschaften aufteilt und in ein Spiel schickt, sieben gegen sieben oder elf gegen elf, ist auch der Spaß wieder da, der Spaß am Spiel, am Trick, am Gefühl, wie herrlich es ist, den richtigen Pass zu spielen und der Stürmer tunnelt den gegnerischen Torwart. Fußball ist so ein Vergnügen.
Ich glaube, Ehrgeiz allein genügt nicht, um Fußballprofi zu werden. Disziplin allein genügt auch nicht. Es braucht diesen Spaß am Spiel, dieses erfüllende Gefühl, sobald du auf dem Platz stehst, das Nicht-mehr-an-die-Freunde-Denken, die jetzt beim Schwimmen sind, der Ball, du, das Tor, deine Welt.
Ich spiele jetzt in der U17 des FC Bayern. Ich brenne für die Mannschaft. Als wir das Finale um die Deutsche Meisterschaft in Berlin gegen Hertha BSC 0:1 verlieren, sitze ich in der Kabine und heule vor Zorn, und es ist mir nicht einmal peinlich. Neben mir sitzen ein paar andere, denen es genauso geht. Selbst in diesen bitteren Momenten merke ich, wie großartig es ist, Teil einer Mannschaft zu sein.
Wir teilen alles. Die Niederlage, den Zorn über die Niederlage, die Entschlossenheit im Training, den Ehrgeiz im nächsten Spiel, das erste Tor, den Sieg, den Jubel, die Party in der Kabine und später am Abend. Du bist nie allein. Du teilst mit allen Kameraden das gemeinsame Ziel. Du musst dich nicht mehr fragen, warum du dir das alles antust, das viele Training, die knappe Freizeit.
Meine Eltern kommen zu jedem Spiel. Sie sehen uns oft gewinnen. Meine Mutter ist genauso Fan der Mannschaft wie mein Vater, aber obwohl beide durchaus etwas vom Fußball verstehen, halten sie sich mit Kommentaren zum Spiel zurück. Sie loben mich, ja, aber sie bilden sich nie ein, mir erklären zu müssen, was ich besser machen könnte.
Das finde ich großartig. So bleibt uns der Fußball ein gemeinsamer Schatz, der nie zum Schauplatz von Konflikten wird.
Als ich mit 17 Jahren in die U19 aufrücke, verdiene ich wie alle anderen 400 Mark im Monat, Aufwandsentschädigung und Fahrgeld. In der U17 waren es 100 Mark gewesen, in der U18 200 Mark. Neben der Chance, für die A-Jugend zu spielen, geht auch schon ein Fenster in die Welt des Erwachsenenfußballs auf. Ich könnte auch für die Amateure des FC Bayern eingesetzt werden, die damals in der Regionalliga spielen, der dritten Liga des deutschen Fußballs. Darüber gibt es nur noch die Zweite Bundesliga und die Bundesliga.
Mein Trainer in der U19 heißt Roman Grill. Er hat selbst viele Jahre für die Amateure des FC Bayern gespielt und eine klare Vorstellung davon, was auf dem Platz zu passieren hat. Er kommt vom Schliersee. Sein Bayrisch ist so klar und lupenrein, dass es irgendwann zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt werden wird. Roman hat, was ein guter Trainer haben muss: Autorität. Wenn wir darüber reden, was ich als rechter Verteidiger oder im defensiven Mittelfeld für Aufgaben übernehme, merke ich, wie klar seine Vorstellungen sind.
Wir sind erfolgreich. Mit Roman an der Seitenlinie schaffen wir es 2001 ins Finale der deutschen U19-Meisterschaft. Unser Gegner ist Bayer Leverkusen, bestimmt die beste Jugendmannschaft dieses Jahres. Wir spielen in Leverkusen in der BayArena. Das Stadion ist fast ausverkauft, auf den Tribünen gut 20.000 Zuschauer.
Wir schlafen im Stadion, zu der BayArena gehört auch ein Hotel. Meine Nacht bleibt kurz. Ich bin nervös. So viele Zuschauer, die meisten werden die Heimmannschaft unterstützen. Für das Spiel hat mir Roman eine zentrale Rolle zugedacht. Wir treten gegen den offensiv starken Gegner mit zwei Sechsern an, einem massierten, defensiven Mittelfeld. Ich bin einer der beiden Sechser.
Im Tor steht bei uns Philipp Heerwagen. Philipp ist ein super Torhüter. Neben mir spielt Markus Feulner, wir müssen vor der Abwehr das Spiel dicht machen. Im offensiven Mittelfeld soll Zvjezdan »Zwetschge« Misimovic, ein begnadeter Techniker, mit langen Bällen auf unsere Sturmspitzen für Kontermöglichkeiten sorgen.
Das Spiel geht los, und nach wenigen Minuten ist klar: Der Gegner spielt überragend. Wir bringen gar nichts zustande. Wenn Philipp Heerwagen nicht weltklasse halten würde, hätten wir das Spiel schon in der Halbzeit verloren. Das 0:0 nach 45 Minuten schmeichelt uns. Ich habe im zentralen Mittelfeld genau sechs Ballkontakte gehabt und Markus Feulner sieben. Nichts geht.
Als wir in die Kabine gehen, sagt Markus: »Was ist denn da los, Philipp? Was machen wir?«
Ich schüttle ratlos den Kopf
Also trifft Markus eine Entscheidung. Er schnürt seine Stollenschuhe auf und pfeffert sie in seinen Spind. Mit Stollenschuhen rutschst du wegen der langen Stollen aus Stahl in der Regel weniger, außer der Boden ist ungemein hart, dann rutschst du mit jedem Schuh. Ich bevorzuge bei jeder Wetterlage Stollenschuhe, denn als Defensivspieler kann jedes Ausrutschen fatale Folgen haben. Markus kramt in seinem Spind, holt seine Noppenschuhe heraus und zieht sie sich an. Die Stollenschuhe können bestimmt nichts dafür, dass wir so scheiße gespielt haben, aber Markus hat einfach das Gefühl, dass er etwas verändern muss, weil bei ihm gar nichts geht.
Wir laufen zurück aufs Feld, ich auf Stollen, Markus auf Noppen. Die Zuschauer pfeifen, sie sind gegen uns. Irgendwie haben sie recht. Unser Spiel ist erbärmlich.
Ein paar Minuten nach der Pause bekommen wir einen Freistoß von der Seite zugesprochen. Der Ball kommt hoch vors Tor, Dominik Haas – dessen Bruder Leonhard inzwischen beim FC Ingolstadt spielt – erwischt den Ball mit dem Kopf, und es steht 1:0 für uns.
Fünf Minuten später zieht Zwetschge Misimovic von außerhalb des Strafraums ab, und der Ball landet im Tor. 2:0. Der Spielstand stellt den Spielverlauf total auf den Kopf. Wir haben genau eineinhalb Chancen gehabt und zwei Tore erzielt.
Bayer Leverkusen hält jetzt wütend dagegen.
Als einer ihrer Stürmer im Strafraum umfällt, pfeift der Schiedsrichter Elfmeter. Grenzwertige Entscheidung. Aber der Strafstoß sitzt. Nur noch 2:1.
Zehn Minuten vor Schluss gleicht Bayer aus. Wir sind platt. Jetzt rächt es sich, dass wir in der ersten Halbzeit nur dem Ball nachgelaufen sind. Es ist eine Frage der Zeit, bis Bayer das Spiel endgültig umdreht.
Aber in der 88. Minute spielen wir noch einmal so was wie einen Konter. Plötzlich steht Piotr Trochowski auf Linksaußen, fast auf der Grundlinie, und während alle darauf warten, dass er den Ball in die Mitte spielt, chipt er ihn mit viel Effet ins allein gelassene Tor.
Dann ist das Spiel aus. So platt war ich noch nie, aber die Freude über den Titel lässt die Batterien noch einmal kurz aufflackern, und unser Jubel ist ausgelassen und wild, wir sind Deutscher Meister, haben gewonnen, obwohl wir keine Chance gehabt haben, wir tanzen auf dem Spielfeld, umarmen uns, von der Betreuerbank kommt Herbert Harbich angesprintet und springt mit der vollen Wucht seines doch schon etwas stärkeren Körpers auf die Jungs, krawumm, Deutscher Meister, und wie dieser Sieg zustande kam, als schwächere Mannschaft mit heute mehr Glück, macht die Sache noch ein bisschen süßer, noch ein bisschen schöner.
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