Aber das war es dann schon. Wir verteidigen hinten so entschlossen wie die Schweizer das Bankgeheimnis. Ein paar Minuten später holt mich der Trainer runter. Ich bin platt, und er hat es gesehen. Zwei durchgespielte Bundesligapartien und das Spiel heute haben mich auch physisch an meine Grenzen gebracht.
Magath gibt mir einen Klaps, sagt »Super, Philipp«, und ich wäre bestimmt happy und stolz gewesen, wenn wir das Spiel schon gewonnen gehabt hätten, aber es fehlen noch fast zwanzig Minuten.
Verrückt: Als ich in meinen Trainingsanzug geschlüpft bin und auf der Bank sitze, spüre ich plötzlich die ganze Nervosität, die mein Gehirn auf dem Spielfeld in Energie umgewandelt hat. Ich spüre das Tempo, das ich gegangen bin, den Stress, der nicht zu vergleichen gewesen ist mit irgendeinem anderen Spiel, das ich je zuvor gemacht habe. Weit hinten im Kopf und unten in den Beinen machen sich Müdigkeit und Anstrengung bemerkbar, aber meine Aufmerksamkeit ist auf dem Platz geblieben, wo Manchester United jetzt den Ausgleich schaffen will und ich nichts mehr dagegensetzen kann.
Aber die Chancen haben wir. Soldo scheitert mit zwei Kopfbällen, dann spielt Hleb auf Kurányi, Ferdinand grätscht Kevin um, Elfmeter.
Jetzt haben wir sie. Wir beglückwünschen uns schon auf der Bank. Fernando Meira wird schießen, unser routinierter Innenverteidiger, ein sicherer Schütze, dann steht es 3:1, noch zehn Minuten zu spielen, das holt selbst Manchester United nicht auf.
Fernando läuft an, schießt in die linke Ecke, aber dort ist vor dem Ball schon Tim Howard, der Keeper. Gehalten, Chance vergeben. Die ganze Bank unter Schock, während drüben bei den Engländern zwei neue Leute bereitstehen, um mit frischen Kräften doch noch für den Ausgleich zu sorgen, der gerade noch meilenweit entfernt schien.
Aber unsere Abwehr bleibt konzentriert. Manchester drückt zwar, aber eine zwingende Torchance bekommen sie weder in den restlichen zehn Minuten noch in den ewig langen vier Minuten der Nachspielzeit.
Dann ist das Spiel aus.
Das Stadion singt, tanzt, feiert, als wäre hier kein Fußballspiel, sondern Oktoberfest. Wir singen, tanzen, feiern mit. Als ich in der Mitte des Spielfelds stehe und die vollen Ränge betrachte, wo die Zuschauer auch jetzt, zehn Minuten nach dem Spiel, nicht nach Hause gehen, denke ich kurz, wie unwahrscheinlich das doch alles ist. Vor ein paar Monaten spielte ich noch vor tausend Zuschauern gegen den SC Pfullendorf, und jetzt haben wir Manchester United in der Champions League geschlagen, und ich habe eine so gute Partie gemacht, dass ich kaum mehr daran zweifle, dass ich auch im nächsten und im übernächsten Spiel in der Startelf stehen werde. Ich denke, dass Fußball eben immer Fußball bleibt, dass jede Situation, die du erlebst, neu und doch vertraut ist, und dass ich immer Fußball gespielt habe, also auch in dieser unwahrscheinlichen Spirale, die mich gerade nach oben treibt, etwas habe, das mir Halt gibt.
Dann gehe ich in die Kabine. Heute muss gefeiert werden.
In der Bundesliga spielen wir eine tolle Hinrunde. Nach 17 Partien stehen wir punktgleich mit dem FC Bayern und Bayer Leverkusen auf Platz 4, Werder Bremen hat vier Punkte Vorsprung. Wir haben die dichteste Abwehr der Bundesliga, in 17 Spielen kassierten wir nur sieben Tore. Auch in der Champions League läuft es blendend, wir haben uns souverän für das Achtelfinale qualifiziert, wo wir gegen Chelsea spielen.
Anfang Februar 2004, die Rückrunde hat gerade begonnen, ruft mich Felix Magath in sein Büro. Er macht die Tür zu und sagt: »Philipp, nur dass du’s weißt. Du wirst nächste Woche in die Nationalmannschaft berufen.«
2. Kapitel
UM DEN ZAUN ZU DEN PROFIS
Jugend in Gern und beim FC Bayern
Immer die Freude am Fußball behalten – Vertrauen in das eigene Gefühl entwickeln – immer nur an den nächsten Schritt denken – nicht zu große Ziele setzen – aus Schwächen Stärken entwickeln – die Freude, Teil einer Mannschaft zu sein – die eigenen Möglichkeiten erkennen – die richtige Unterstützung suchen
Am Anfang verlieren wir jedes Spiel. Wir verlieren hoch, wir verlieren knapp, wir holen nicht einmal ein Unentschieden.
Ich bin hin- und hergerissen. Macht mir das Fußballspielen mehr Spaß, als mich das Verlieren ärgert? Oder nervt mich das Verlieren so, dass ich irgendwann keine Lust mehr auf Fußball habe?
Ich bin fünf Jahre alt, als ein Kindergartenfreund vor unserer Haustür in Neuhausen steht und fragt: »Darf der Philipp mit zum Training kommen?«
Meine Mama lacht und sagt, was sie seither immer gesagt hat: »Wenn er will …«
Okay, dann will ich halt. Gehe zum ersten Mal ins Training der Freien Turnerschaft Gern und füge der stattlichen Zahl der Lahms in diesem Verein einen weiteren hinzu.
Mein Papa spielt bei der FT Gern. Mein Onkel spielt bei der FT Gern. Mein Opa hat bei der FT Gern gespielt. Meine Mama wird bald im Büro der FT Gern sitzen und darauf schauen, dass jede einzelne Jugendmannschaft hat, was sie braucht. Der Platz der FT Gern ist genau fünf Minuten von unserer Wohnung in Neuhausen entfernt.
Man könnte also denken, dass mein Weg in diesen Klub vorgezeichnet ist.
Aber ich will im Grunde nur bolzen. Gegenüber von unserem Haus beginnt der Olympiapark, dort finden sich immer ein paar Jungs, die miteinander spielen. Eine Gruppe von Kindern, ein Ball, zwei Tore: gibt es was Schöneres?
Die FT Gern spielt in der Kreisklasse. Mein Papa hat Talent, die Sechziger wollten ihn haben. Aber statt Zweite Bundesliga zu spielen, ist der Papa lieber am Wochenende daheim.
Fußball gehört in unserer Familie zum Alltag, aber nie in Verbindung mit enormem Ehrgeiz. Für den Ehrgeiz bin offenbar ich zuständig.
Sobald ich mit meinem neuen Klub die erste Niederlagenserie kassiert habe, schmeiße ich mich noch mehr rein als bisher. Wäre doch gelacht! Beim Training merke ich, dass es mir leichter fällt als den meisten anderen, dem Ball klarzumachen, was ich von ihm will. Ich schieße ganz gut, und ich kann fast jeden Ball stoppen. Weil mir der Ball nicht dauernd vom Fuß springt, kriege ich ihn auch öfter zugespielt als die anderen. Es dauert also nicht lange, und ich spiele in meiner Mannschaft eine Rolle. Wir spielen kreuz und quer, aber ich bin immer in der Mitte.
Das gefällt mir. Aber noch mehr gefällt mir, dass wir nicht mehr so sicher verlieren, wie das Amen in der Kirche. Wir spielen hie und da unentschieden, und an guten Tagen gewinnen wir sogar.
Meine Mitspieler sind meine Freunde. Würden wir nicht gemeinsam Fußball spielen, würden wir irgendetwas anderes aushecken. Aber wir kommen nicht dazu, denn Schule und Fußball nehmen den ganzen Tag in Anspruch.
Auf Münchens Fußballplätzen treiben sich immer Nachwuchsscouts der großen Vereine herum. Sie schauen sich Spiele aller Jugendmannschaften an und versuchen, die vielversprechenden Jungs zu ihren Klubs zu lotsen. Viele Profikarrieren haben auf diese Weise begonnen.
Eines Tages, ich bin gerade zehn geworden, spricht mich nach einem Spiel ein freundlicher Mann an. Ihm habe gefallen, wie ich die Mannschaft nach vorn trieb. Ob wir nicht noch ein bisschen auf dem Nebenplatz kicken wollen?
Mit meinem Papa und zwei Kumpels kicken wir noch ein bisschen auf dem Nebenplatz. Der Mann schaut aufmerksam zu, wie wir den Ball behandeln, ihn stoppen und weiterspielen. Dann rückt er mit seinem Anliegen heraus. Ob ich nicht Lust hätte, zu 1860 München zu kommen? Wenigstens für ein Probetraining.
»Hm«, sage ich. »Weiß nicht.«
Aber dann interessiert mich doch, wie bei den Sechzigern trainiert wird. Obwohl ich fast sicher bin, dass ich nicht von der FT Gern weggehen werde, fahre ich zum Probetraining nach Giesing.
Das Erste, was ich sehe, ist der Zaun hinter dem Tor. Der hat große Löcher.
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