Donatella Di Pietrantonio - Bella mia

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Als »Bella mia« besingt ein Volkslied die Stadt L'Aquila in den Abruzzen – 2009 legt ein Erdbeben sie in Schutt und Asche, tötet Menschen, reißt Familien auseinander.
In einer der Behelfsunterkünfte, die bald die einzige Normalität darstellen, versuchen drei Menschen, den Weg zurück ins Leben zu finden: die Erzählerin Caterina, deren Zwillingsschwester Olivia umkam, als sie noch kurz in das einstürzende Haus zurücklief, Marco, Olivias heranwachsender Sohn, der nach dem Verlust niemanden mehr an sich heranlässt, und die alte Mutter, die sich um alle kümmern will und doch selbst am meisten Hilfe braucht.
Wie soll man einem schweigsamen, störrischen Jugendlichen plötzlich Ersatzmutter sein, wie den eigenen Gefühlen wieder trauen und die Sicherheit finden, sich auf Neues einzulassen? Behutsam, über kleine Gesten und auf ganz unterschiedlichen Wegen finden die drei allmählich aneinander Halt und den Mut, der Willkür und Vernachlässigung durch die Behörden zu trotzen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ein eindringlicher Roman über Verlust und verschüttete Gefühle, aber auch über die Kraft, sich neu zu erfinden.

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Donatella Di Pietrantonio

Bella mia

Roman

Aus dem Italienischen

von Maja Pflug

Verlag Antje Kunstmann

Für Piera und Anna Rita, für ihre Kinder

Einst war ich sehr leicht, ich wog wenige Kilo. Einst gab es nur drei oder vier Kilo von mir, nur wenige Kilo von mir, nur wenige Kilo trugen meinen Namen.

MARIANGELA GUALTIERI, Fuoco centrale

1

Den Wuschelkopf über den Teller gebeugt, sitzt er an seinem Platz, und der Dampf der Brühe weitet die Poren seiner Pickel, ringelt die langen, feinen Härchen, die in der Erwartung, ein Bart zu werden, noch planlos sprießen. Nach dem Geräusch des Bestecks zu urteilen, strengt er sich an, aber er isst zu wenig. Lange rührt er mit dem Löffel um und führt ihn dann halb leer zum Mund. Er weicht unseren Blicken aus, er weiß, dass wir ihm zuschauen und die Proteine zählen, die er zu sich nimmt, ebenso wie die, die er im Teller lässt.

Er kaut Schweigen.

Es gelingt mir nicht, ihn ganz zu lieben, diesen Jungen. Groß, mager, ein Körper mit abgebrochenen, nirgends runden Linien, und unter dem Knie wird die Zeichnung der Beine plötzlich unscharf. Die Großmutter behandelt ihn immer noch wie ein Kind, doch ich weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll. Er ist schon fast ein junger Mann, manchmal wirkt er noch jünger, als er ist.

Als er ein Baby mit dunklen Locken und Herzmund war, hatte ich keine Mühe, Zärtlichkeit für ihn zu empfinden, damals besaß er die Anmut, die den Kleinen für die Erhaltung der Art mitgegeben ist, im Übermaß. An den endlosen Nachmittagen, an denen ich auf ihn aufpassen sollte, überschüttete ich ihn mit Küssen. Er roch nach Welpe, jetzt hängt ihm manchmal ein strenger Geruch nach ungewaschenen Achselhöhlen an, und seine Haare wirken fettig, während er stumm herumgeht. Wenn er sein T-Shirt auszieht, sieht man vorn eine Landschaft hervorstehender Rippen und Wirbel im Rücken. Er krümmt sich wie einer, den gerade ein Ball in die Magengrube getroffen hat. Nicht immer erkenne ich ihn von hinten, wenn ich ihn von weitem sehe, er ist so schnell gewachsen.

Wir sitzen um diesem neuen Tisch, der keinem von uns gehört. Vorher hatte jeder seinen eigenen, die verwitwete Großmutter in ihrem Haus im Dorf, ich in meiner Wohnung im Stadtzentrum und er mit seiner Mutter ganz in der Nähe; als es passierte, wohnten die beiden seit eineinhalb Jahren wieder hier. Jetzt leben wir drei allein zusammen, in dieser uns zugewiesenen Wohnung. Er ist mein Neffe, für meine Mutter der Enkel.

Das Erdbeben hätte es nicht gebraucht; schon vorher hatte jeder seinen eigenen Schmerz. Doch meine Schwester war froh, dass sie mit ihrem Sohn wieder nach Hause gezogen war, als Notlösung war das akzeptabel, sagte sie. Sie eignete sich die Orte wieder an, frischte unterbrochene Beziehungen auf, gewöhnte sich wieder an die verlangsamte Zeit. Das milderte den Schmerz der Trennung.

Im Winter tranken wir an den Sonntagnachmittagen bei unserer Mutter Kaffee unter der niedrigen Hängelampe im Esszimmer. Sie verwöhnte uns mit einer Praline, die wie zufällig neben dem dampfenden Tässchen lag; später stellte eine unsichtbare Hand uns dann eine Schale mit geschältem Obst hin, während sie uns unter dem Vorwand, sie müsse im Hof die Wäsche abnehmen, allein ließ, damit wir zwei uns freier austauschen konnten.

Wenn er nicht mit seinen Freunden wegging, begleitete er uns im Schutz seiner Kopfhörer. Er schloss uns aus. So macht er es auch jetzt manchmal, wenn er morgens den Bus verpasst hat und ich ihn im Auto zur Schule fahre. Er nutzt die Musik, mit der er sich die Ohren volldröhnt, als Stacheldraht zwischen uns. Um diese Zeit ist er wahrscheinlich noch verletzlicher, noch stärker darauf bedacht, Abstand zu wahren. Er verkriecht sich völlig in seiner Winterjacke, stellt den Kragen hoch, verschanzt sich und macht sich unerreichbar. Hartnäckig starrt er aus dem Fenster oder auf seinen Hosensaum, seine Schuhe. In den Rechtskurven klammert er sich fest, bis die Fingerknöchel weiß hervortreten, um nicht zu mir zu rutschen. In den Linkskurven klebt er mit Gesicht und Schultern am Fenster, wendet mir für den Fall, dass ich mich in seine Richtung lehne, nur seine spitzen Knochen zu, die Hüfte, den Ellbogen. Seinen Gruß beim Aussteigen höre ich kaum, aber die Tür schließt er überraschend sanft.

Vor einigen Tagen trafen wir uns vor der Haustür, er mit seinem Rucksack und ich mit schweren Einkaufstaschen. Er ging einige Schritte vor mir, brummte halblaut Ciao über die Schulter und ließ die Tür offen, als er hinaufging. Doch dann lud er seinen Ballast vor der Wohnung ab und kam die Treppe wieder herunter, um mir zu helfen, nahm mir die Tüte mit Kartoffeln und die Packung Mineralwasser ab, die ich am inzwischen blau angelaufenen Zeigefinger hielt. Ich habe mich bedankt, keine Antwort.

2

Gott hat meiner Mutter vom ersten Augenblick an geholfen, mit der Macht seiner Stimme hat er sie durchdrungen, um ihrer Qual einen Sinn zu geben. Er flößte ihr auch den Mut ein, jemanden zu suchen, der die Todesanzeigen druckte, und den Wahnsinn, die Plakate an zwei oder drei Stellen des begehbaren Rings rund um die Altstadt anbringen zu lassen. Nichts sollte ihrer Tochter fehlen, auch nicht im Tod.

An manchen Tagen fuhr ich im Auto daran vorbei und schämte mich, auf dem grauen Zement ihren Namen zu sehen. Eines Abends hielt ich an, kratzte mit dem Fingernagel an einer Ecke des Plakats, aber es war fest angeklebt und wollte nicht abgehen. Sofort hielt ich inne. Mit der flachen Hand streichelte ich den Namen, Vokale und Konsonanten, sie war meine Schwester.

Sie zersetzen sich nur sehr langsam, diese angeklebten Plakate. Zuerst schwindet der Glanz des Klebstoffs, dann beginnt die Druckerschwärze zu verblassen, und oben löst sich eine Ecke. Wind und Regen dringen zwischen Gemäuer und Papier, klappen die weiße Rückseite über den Text, verdecken ihn. Eines Morgens war nichts mehr da.

Meine Mutter fleht zu ihrem Gott und tröstet sich damit. In meinem schnöden Unglauben stelle ich mir vor, ich würde ihn auf der Erde wiedererkennen und an seinem himmelblauen Mantel, mit dem die Kinder ihn in ihre Katechismushefte malen, zu einer Führung durch die Stationen der Katastrophe schleifen. Sie betet mit dezenter Inbrunst für die Tote wie für die Lebenden. Zur Großmutter ist unser Junge recht freundlich, er sieht sie sogar an und hebt leicht die Mundwinkel, versucht zu lächeln, wenn sie mit ihm spricht.

Alle drei verlassen wir morgens das Haus; er geht zur Schule, ich zur Arbeit, und sie räumt auf und nimmt dann den Bus zum Friedhof. In einer großen Tasche hat sie die Utensilien dabei, die sie für die Grabpflege braucht, ein Putzmittel und ein Tuch aus Mikrofaser. Die Blumen kauft sie am Stand vor dem Eingang, die halbe Rente lässt sie dort. Für sie ist jeder Tag Allerseelen. Sie verrichtet immer die gleichen, minuziösen Handgriffe, wirft die alten Gerbera fort, die in Wirklichkeit noch frisch sind, und vertauscht sie gegen neue in einer anderen Farbe, die sie behutsam in der Vase arrangiert, damit der Strauß gut aussieht. Sie poliert den weißen Grabstein, das Lächeln auf dem Foto, das sie unbedingt anbringen wollte. In regelmäßigen Abständen dreht sie sich hilflos zu unserer Nachbarin um, die auf dem Grabstein kauert, unter dem ihr Kind liegt.

Sechs Jahre alt war es in der Nacht des Erdbebens.

Mein Vater liegt in einem anderen Teil des Friedhofs, neben ihm war kein Platz mehr. Meine Mutter vernachlässigt ihn ein wenig, die jüngste Trauer hat ihn in ihrem Herzen überschattet. Sie lässt ihm einige Tage Staub auf seinem Porträt; die Blumenkronen beugen sich der Schwerkraft, bevor sie ausgetauscht werden.

Sonntags begleite ich sie manchmal. Ich halte mich abseits, während sie arbeitet. Ab und zu muss ich ein Stück weggehen, weil mir irgendwie übel wird. Wenn der Schwung oder die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen eine gewisse Grenze überschreiten, werde ich seekrank. Ich sage nichts, wenige Schritte nach rückwärts genügen. Ich überlasse sie ihrer gewohnten Beschäftigung, sie braucht sie. Nur am Anfang habe ich schwach protestiert, wegen der Plakate, dem Foto auf dem Grabstein. Wie befriedigt tritt sie durch das Tor und plaudert ein wenig mit der Blumenfrau, sie duzen sich seit geraumer Zeit.

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