Noch lange blieben wir dabei; auch als wir beide schon jede für sich in L’Aquila wohnten, versuchten wir, mindestens einen Tag vorher ins Dorf zurückzukehren, um gemeinsam in unserem alten Kinderzimmer zu schlafen. Mit der Flasche Moscato, die Papa schon gekühlt für uns bereithielt, zogen wir uns zurück und ließen pünktlich um Mitternacht zum Auftakt des Festes den Korken knallen. Nachdem wir uns einmal im Stehen zugeprostet hatten, wanderte die Flasche, auf den Nachttisch tropfend, von einem Bett zum anderen. Zwischen Gelächter und Bläschen drohten wir schier zu ersticken, wir tranken sonst nie so.
Marcos Geburt bereitete dieser Gewohnheit ein Ende, Olivia kam nicht mehr. Wenn möglich, besuchte ich sie zu Hause, um zu gratulieren, doch unser beider Aufmerksamkeit war ganz auf das Baby mit dem Lockenschopf gerichtet. Als sie dann mit Roberto, der in einem neuen Quintett spielte, nach Rom umzog, blieb von unserem Fest nur noch ein Telefonat. Wir mussten warten, bis sie für ein Wochenende ins Dorf zurückkehrten, dann trafen wir uns alle zu einem Familienessen, das viel üppiger war als gewöhnlich, als müsse es das unterschwellige Gefühl verpasster Gelegenheiten ausgleichen. Dass es nur noch eine Torte gab, wies taktvoll darauf hin, dass unsere Eltern jetzt, da sie Großeltern waren, endlich den Übergang ihrer Töchter ins Erwachsenenalter akzeptiert hatten.
Der Mann am Empfang registriert mich ohne einen einzigen Blick, und ich bin froh darüber. Ich gehe ins Zimmer hinauf.
Die Nacht vergeht irgendwie. Die schweren Vorhänge riechen nach Staub und abgestandenem Rauch, als ich sie so fest wie möglich zuziehe, um bei Sonnenaufgang das Licht auszuschließen, das in den noch geweiteten Pupillen schmerzt wie ein Messerstich. Ich setze mich, zum Nachttisch gewandt, auf das zerwühlte Bett. Beim schwachen Schein der Lampe gieße ich mir aus der Flasche, die ich für mich allein mitgebracht habe, ein Glas Cognac ein und lege daneben in einer Reihe die zehn Tavor-Tabletten auf der Platte aus Kunstholz bereit. Ich spüre den bitteren Geschmack der ersten auf der Zunge, der Schluck Cognac brennt auf der schon so lange abstinenten Schleimhaut, dann spüle ich die nächste runter, wieder mit Cognac, dann noch eine und noch eine, immer gefolgt von dem Schluck, der nie das unendlich große Glas leert. Oder vielleicht habe ich es ein oder zwei Mal nachgefüllt. Meine Speiseröhre steht von oben bis unten in Flammen, mein Magen revoltiert. Ich halte durch. Unterdrücke den Brechreiz durch mehrmaliges trockenes Schlucken. Ich drücke auf den Schalter und wickle mich in die Decken, wieder zum Zwilling geworden, schlafe ich in dieser großen dunklen Gebärmutter meinen vorübergehenden Todesschlaf.
Irgendwann am Abend wache ich auf. Ich weiß nicht, wohin ich kotze. Danach falle ich in einen zweiten stundenlangen Schlaf, aber kürzer. Am Ende knipse ich die Nachttischlampe an und spucke noch etwas Salzsäure auf den Boden zwischen Bett und Teppich. Mein Kopf brummt wie ein wild gewordener Bienenschwarm, allmählich nimmt er den Körper wieder wahr, die Schwäche. Im Bad trinke ich Wasser aus dem Hahn am Waschbecken. Sorgsam meide ich den Spiegel und bleibe lange unter der Dusche, achte aber auf den Verband an meiner verletzten Hand. Dann trockne ich meine fremde, stumpfe Haut ab, eine Zellwüste, wo das Blut noch stockt, die Nerven nur langsam reagieren. In dem einen Tag Schlaf ist der Organismus auf ein zentrales pulsierendes Klümpchen geschrumpft, ein kleiner Kern verdichteten Lebens, von dem aus sich nun eine Welle noch vorhandener Wärme wieder bis an die blasse, erloschene Oberfläche fortpflanzt. Das Gewebe macht sich bereit, Nahrung zu empfangen, der Kreislauf kommt wieder in Gang. Ich wehre mich nicht.
Ich ziehe die Vorhänge auf. Die Zeit, die ich verlieren wollte, ist schon Gestern. In einem länger zurückliegenden Gestern habe ich meiner Mutter geholfen, Olivia zu waschen und anzukleiden. Zuerst war noch jemand bei uns in dem eisigen Raum, eine verschwommene Gestalt im Hintergrund vor der weißen Wand, bestimmt eine Frau, ich weiß nicht, wer. Dann muss sie hinausgegangen sein; als sie begriff, dass wir im Augenblick die Kraft gefunden hatten für das, was getan werden musste, hat sie uns allein gelassen. Niemandem hätten wir erlaubt, sich um Olivias nackten Körper zu kümmern, um ihre ungeschützten Öffnungen, den zerquetschten Brustkorb. Sie leistete uns passiv Widerstand, mit mineralischer Starre. Grobkörniger Staub bedeckte vor allem ihre Hände und ihr unversehrtes Gesicht, wie ein schwerer Puder für einen grausamen Karneval. Ihre Haare konnten wir nicht waschen, wir haben nur den trockenen, bröselnden Schmutz vorsichtig herausgeschüttelt. Zuletzt war sie schön, wir haben sie angeschaut und geküsst, ich einmal, auf die Stirn, und ihre Mutter wieder und wieder, auf die Füße, die Hände, die Wangen und den Kopf, während sie sie streichelte. Erst da hat sie geweint, nicht vorher, während sie sie zurechtmachte. Sie hat lange zu ihr gesprochen, an die Worte erinnere ich mich nicht.
Olivia war bereit für die Begegnung mit Marco. Auch daran erinnere ich mich nicht, oder vielleicht bin ich hinausgegangen.
In letzter Minute habe ich ihr eine Strähne abgeschnitten, hinten im Nacken, sonst hätte sie mir nie verziehen. Ich habe sie eingesteckt und bewahre sie in einem Schächtelchen aus geblümtem Papier auf, das ich ab und zu öffne, um nachzusehen, ob wenigstens diese Locke die Zeit, die sie von ihr trennt, unverändert überdauern kann. Die einzige erkennbare Veränderung ist bisher, dass die Haare ein wenig spröder und stumpfer wirken; wenn man sie mit Daumen und Zeigefinger befühlt, merkt man den Unterschied sofort. Sie sind nicht ans Leben angeschlossen.
Ich trete hinaus in dieses eherne Licht des frühen Morgens. Den restlichen Cognac werfe ich in die Mülltonne, nicke dem Mann in der Bar zu, der mir nach einem prüfenden Blick einen starken Espresso vorschlägt. Er serviert ihn in einem dieser dickwandigen Tässchen, die ich mir auch für zu Hause gekauft hatte, das Erdbeben hat sie fast alle zertrümmert. Daneben legt er drei kleine Hefeteilchen, die ich brav aufesse. Ich zahle und verabschiede mich mit einer Handbewegung; an der Tür wird mir klar, dass ich kein einziges Wort gesprochen habe. Ich gehe Richtung Stazione Tiburtina.
An einem Stand, der gerade am Bürgersteig aufgebaut wird, halte ich inne, in den Kartons liegen alte Comics. Der Mann hat einen Packen mit Dylan-Dog-Bänden geöffnet und legt sie in die erste Reihe. Spontan rufe ich Marco an, der um diese Zeit wahrscheinlich seine Milch trinkt. Auf meine Frage zählt er mir verblüfft die Nummern auf, die ihm fehlen, und ja, der Großmutter geht es gut, wir beenden das Gespräch rasch, er ist schon etwas spät dran. Drei davon finde ich, so ein Glück, und in der Tasche wiegen sie weniger als der Cognac. Jetzt muss ich mich beeilen, die Beine bestehen die Prüfung.
Auf dem Rückweg ist der Bus halb leer, ich sitze sehr weit hinten am Fenster, doch das schützt mich nicht vor der Bekannten, die einsteigt und beschließt, sich neben mich zu setzen. Sie fängt an zu reden, fragt nach meinem bandagierten Finger und erzählt, wann sie in die Hauptstadt gekommen ist und wozu und wie. Nach einer kurzen Pause will sie das Gleiche von mir wissen. Ich antworte nicht sofort, blicke hinaus auf die vorbeiziehende römische Campagna, dann bitte ich um Verzeihung, ich muss mich weiter nach vorn setzen, die übliche Autoübelkeit. Selbstverständlich, selbstverständlich, und sie hat nicht den Mut, mir zu folgen.
Der Fahrer verlangsamt, um in L’Aquila West abzufahren, an der Mautstelle wabert der leichte Nebel einer unfruchtbaren Jahreszeit. Die Stadt bietet den Heimkehrenden keine Sehenswürdigkeiten, sie nimmt uns wieder auf und fertig; es schnürt mir die Kehle zu, dass sie mich mit kreuz und quer verlaufenden Rissen an den Häuserfassaden, fehlenden Stockwerken, um ihre eigene Achse gedrehten Pfeilern empfängt. Freiwillig kehre ich an den Ort zurück, der meine Schwester ermordet hat.
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