Francine Magaud war sich durchaus bewusst, dass der weiter südlich gelegene Teil der Provinz Ituri – rund um die Stadt Bunia – als noch gefährlicher galt, nicht zuletzt wegen des ethnisch bedingten Dauerkonflikts zwischen den sesshaften Ackerbauern der Lendu und den viehzüchtenden Nomadenstämmen der Hema. Die im Jahr 1998 entdeckten Öl- und Methangasvorkommen rund um den Albertsee als vermeintliche Vorboten von Reichtum, hatten dabei wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Fünf Jahre später mussten zeitweilig sogar zweitausend zusätzliche EUFOR-Soldaten unter UN-Mandat in die Region entsandt werden. Doch was Francine in diesem Augenblick wirklich beunruhigte war die Tatsache, dass sich die ugandische Regierung im Zuge der besagten Rohstofffunde seinerzeit zum alleinigen Handelspartner der US-Ölindustrie erklärt hatte, einhergehend mit beachtlicher Militärpräsenz bis weit ins kongolesische Hinterland – vermutlich bis heute. Zudem war es sogar möglich, dass Francines Wagenkonvoi auf ruandische Rebellen stoßen würde. Wer konnte schon vorhersagen, was dann passieren würde?
Unweigerlich ging ihr der Name des entmachteten Tutsi-Rebellengenerals Laurent Nkunda durch den Kopf. Lange Zeit war er erfolglos per internationalen Haftbefehl gesucht worden wegen Plünderung, Massenmordes und räuberischer Erpressung in der Provinz Nordkivu. Eine hervorragend ausgerüstete Armee von sechstausend Mann hatte unter seinem Kommando gewütet, gespeist von der Kontrolle und Ausbeutung diverser Gold-, Zinn- und Coltanminen. Eine Freundin Francines, die als Pressesprecherin für die UN-Friedensmission im Kongo tätig war, zeichnete ein diabolisches Bild von diesem Mann. Einst hatte Nkunda sogar in der Armee der Demokratischen Republik Kongo gedient, war dann aber entlassen worden und hatte in der Zeit danach sowohl Massaker an der Zivilbevölkerung als auch die Zwangsrekrutierung von Kindern befohlen. Und das vor den Augen der Welt.
Ein bitteres Lächeln huschte über das Gesicht der Französin. Aber natürlich, gerade wenn es um das Metallerz Coltan ging, sahen die Staatenlenker westlicher Demokratien im Namen der Staatsraison routiniert weg. Jüngst hatte ein krimineller südafrikanischer Blutcoltan-Händler sogar einen Hubschrauber aufwendig in UN-Farben und mit UN-Logo bemalen lassen, um Transportkontrollen zu umgehen. Im Großen wie im Kleinen, die enormen Gewinnmargen sowie strategische Erwägungen hoben alle moralischen Grenzen auf.
Aber sie, Francine Magaud, wollte und würde dem unsäglichen Treiben nicht tatenlos zusehen. Sie betrachtete den Fahrer, der stark schwitzend und sichtlich nervös das Lenkrad umkrallte. Dann drehte sie sich nach hinten um, wo ihr Blick auf die Freundin und Kollegin Joseline Mulolo fiel, die reglos und mit geschlossenen Augen dasaß.
»Joseline, wir finden deine Familie. Du wirst sehen, es geht ihnen gut.«
Die Angesprochene öffnete die Augen, doch schien sie wie in Trance durch Francine hindurchzusehen, wobei ihre Stimme einen beängstigenden Schauer verursachte: »Meine Eltern, Großeltern – sie sind alle tot. Und wenn wir nicht umkehren, werden wir auch sterben.«
»Ach was, das bildest du dir nur ein«, erwiderte die schockierte Französin um Zuversicht bemüht. »Wir haben dein Dorf doch schon fast erreicht, und nichts ist passiert. Außerdem sind wir hier in offiziellem Auftrag. Die ganze Welt weiß, wo wir sind.«
Jetzt fixierte die Kongolesin sie eindringlich, ihre Worte waren von mitleidigem Bedauern getragen: »Und du bist sogar französische Staatsbürgerin, ich weiß. – Du arbeitest jetzt schon so lange in diesem Land und hast es trotzdem noch nicht begriffen. Hier im Osten regiert das Recht des Stärkeren. Und der Stärkste, das ist der Skrupelloseste mit den meisten Waffen. Hier draußen ist dein Leben genauso wenig wert wie meins.«
Francine reagierte wild entschlossen: »Ich habe dir versprochen, dich in dein Dorf zu bringen, und das tue ich. Außerdem müssen wir verdammt noch mal rausfinden, was in dem Gebiet rund um den Semue-Nationalpark vor sich geht.«
Scheinbar teilnahmslos schloss Joseline Mulolo ihre Augen wieder. Selbstverständlich war sie ihrer Freundin zutiefst dankbar für diese Fahrt in ihr Heimatdorf Elimbo. Doch Francine wusste nicht, was sie wusste, musste nicht mit dieser Bürde von Erinnerungen leben. Aus gutem Grund hatte selbst Joseline als Familienmitglied ihr Dorf nur zweimal besucht, seit sie als Mädchen von den Eltern fortgeschickt worden war – fortgeschickt vom Land ihrer Ahnen, mit dem sie so tief verwurzelt war.
Und dann brach es durch, dieses tief verankerte Wissen, das für wiederkehrende Albträume bei Nacht und latente Melancholie und Paranoia bei Tage sorgte:
Sie war fortgeschickt worden im Jahr 1996, infolge einer von den USA aufgerüsteten Tutsi-Armee von mehr als zehntausend Mann, die unter dem Kommando von Oberst Kabarere die ruandisch-kongolesische Grenze überschritten hatte. Diese Armee sollte die Interahamwe-Mörder der Hutu-Ethnie stellen und vernichten, die zwei Jahre zuvor bis zu achthunderttausend Tutsi sowie unzählige dialogbereite Hutu massakriert hatten – mit Buschmessern und nagelgespickten Knüppeln in nur drei Wochen. Dem Massaker vorausgegangen waren jedoch die Ermordung des ruandischen Staatspräsidenten, eines Hutu, durch den gezielten Abschuss der Präsidentenmaschine mit einer Boden-Luft-Rakete sowie die langjährige gesellschaftliche Benachteiligung der Hutu-Mehrheit durch die Tutsi-Minderheit.
Als letztlich ein Tutsi-General auf Betreiben der USA Vizepräsident und Verteidigungsminister Ruandas wurde, kam es zu einer panischen Massenflucht der Hutu. Etwa eine Million Menschen überschritten seinerzeit unter dem Schutz französischer Fallschirmspringer und Fremdenlegionäre die Grenze zur Kivu-Provinz und wurden in Flüchtlingslagern der UNO und verschiedener NGOs untergebracht. Schnell übernahmen die Interahamwe-Mörder unter ihnen die brutale Kontrolle und nutzten die Lager als Basis für ihre Anschläge und Überfälle auf Ruanda. Als tragische Konsequenz gingen die ruandischen Streitkräfte mit Artillerie und Granatwerfern gegen die Flüchtlingslager vor. Ihr Vernichtungsfeuer galt gnadenlos allen Hutus.
Tränen rannen Joselines Wangen hinunter, als sie den Schmerz unter den unschuldigen Opfern teilte. Von den dreihunderttausend in den Lagern ausharrenden Menschen starb der größte Teil durch Ermordung, Cholera, Erschöpfung oder Verhungern.
Doch damit nicht genug. Die gewaltige Streitmacht des Oberst Kabarere setzte sich in Richtung Kisangani in Bewegung, was nun auch in den Dörfern der Provinz Ituri Panik auslöste. Schnell war die Nachricht vom Tod gereist. Und die Armee Präsident Mobutus stellte keinen Schutz dar, da sich die Hauptstreitmacht des Feindes mithilfe von Satellitenüberwachung und Luftaufklärung der USA jedem Feindkontakt entziehen konnte. Viele Familien fassten in dieser ausweglosen Situation den Entschluss, zumindest die stärksten ihrer Kinder fortzuschicken. Joseline schlug sich in einer mehrmonatigen Odyssee bis nach Isiro durch, wo sie bei einer Familie Obdach fand und das Schicksal sie und Francine Magaud Jahre später zusammenführen sollte.
Jetzt also sollte Joseline endlich heimkehren, nach vier langen Jahren. Es konnten nur noch wenige Kilometer sein. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Was würde sie vorfinden? Schließlich waren sie hier, weil seit etwa zwei Jahren keine Lebenszeichen mehr aus diesem Teil der Provinz nach außen drangen, mit ihrem Heimatdorf Elimbo darin. Und dann der nahe Semue-Nationalpark. Ebenfalls vor etwa zwei Jahren war dieser von der Regierung in Kinshasa zur Sperrzone erklärt worden. Als offizielle Begründung dafür hatte die besonders seltene Flora und Fauna herhalten müssen, deren Erforschung und Schutz einzig nationalen Regierungsstellen übertragen worden waren.
»Die reichen Rohstoffvorkommen sind unser Todesurteil«, unterstrich der Fahrer Joselines Worte. »Ruanda mit dem Genozid von 1994 ist international immer wieder ein Thema. Aber was ist mit der anhaltenden Vertreibung und dem Völkermord an der Zivilbevölkerung hier im Kongo? Es geht immer weiter. Die wahren Hintergründe werden bestenfalls hinter verschlossenen Türen diskutiert. Kein Drahtzieher wurde je dafür gerichtet. – Hier draußen weißt du weder, wessen Handlanger dich tötet, noch wann.«
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