Den Pfad durch den Wald liefen wir schweigend nebeneinander her. Ein paar Mal hingen mir Zweige oder Gestrüpp im Weg und Luan schob sie für mich zur Seite.
Als wir die Lichtung erreicht hatten, hielt ich inne. Mein Blick glitt über das hohe Gras und blieb an einem wackelnden Brombeerstrauch hängen. Ich spürte, wie sich Luan hinter mir anspannte.
„Was ist?“, flüsterte er mit rauer Stimme, die fast wie Musik in meinen Ohren klang. Ich schüttelte den Gedanken beiseite und konzentrierte mich.
„Da ist ein Tier. Ich könnte es erlegen, wenn ich leise genug wäre, um an meinen Bogen und die Pfeile zu kommen.“
Enttäuscht ließ ich die Schultern sinken, als ich feststellte, dass das Tier direkt hinter dem Baum verharrte, in dem ich meine Waffen versteckt hatte. Unmöglich, so nah heranzukommen. Ich würde das Tier aufschrecken, bevor ich die Hälfte der Lichtung überquert hätte.
„Lass mich das machen“, meinte Luan entschlossen und schob sich an mir vorbei. „Ich besorg dir deinen Bogen und du versprichst mir ein ordentliches Mittagessen.“
Ungläubig sah ich ihm hinterher, als er den Schutz der Bäume verließ. Wie ein Löwe näherte er sich immer weiter dem Baum, bis er ihn schließlich erreicht hatte. Mit seinen langen Armen griff er zwischen die verworrenen Wurzeln und zog den Köcher samt Bogen hervor. Dann kam er wieder zurück und reichte mir beides. „Jetzt dein Job.“
Immer noch perplex schaute ich zu ihm auf. „Wie machst du das?“
Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem frechen Grinsen. „Ich weiß, dass ich gut bin.“
Ich schnaubte und wandte ihm den Rücken zu. Das war zwar keine Antwort auf meine Frage, aber jetzt war ich an der Reihe. Das Tier war ein fettes Kaninchen, was ich schnell bemerkte, als es hinter dem Baum hervorkam. Mit wachsamen Augen sah es sich um, dann senkte es den Kopf und begann, Gras zu knabbern. Ich umfasste den Bogen fester und trat unter den Bäumen hervor. Geduckt schlich ich durch die langen Halme und blieb in sicherer Entfernung stehen. Ich zog einen der neuen Pfeile aus dem Köcher und spannte den Bogen. Plötzlich hob das Kaninchen den Kopf und blickte genau in meine Richtung.
Es öffnete leicht das kleine Maul, dann drehte es blitzartig um und sauste auf den Wald zu. Doch ich war schneller. Der Pfeil schoss in hohem Bogen durch die Luft und ich vernahm das satte Knacken, als er ins Fleisch meiner Beute traf.
„Wow!“, rief Luan und kam zu mir. „Nicht schlecht.“
„Weiß ich.“ Zufrieden sammelte ich das Kaninchen ein und Luan bot sich an, es zu tragen. Wir überquerten die Lichtung und ließen uns im Schatten der Bäume nieder. Es war ein heißer Vormittag und die Sonne brannte nur so auf uns hinab. Ich holte ein kleines Messer aus meiner Brusttasche und reichte es Luan. Er sah mich überrascht an.
„Damit, Tiere zu töten, hast du kein Problem, sie danach aufzuschneiden aber schon?“
Ich funkelte ihn wütend an. „Das ist etwas ganz anderes!“
„Finde ich nicht.“ Seufzend begann er, den Bauch des Kaninchens aufzuschneiden und die Eingeweide herauszuholen.
Ich wandte mich ab, als er Geruch von Tod zu mir hinüberwehte.
Nachdem Luan sein ordentliches Mittagessen zu einer kleinen Zwischenmahlzeit gemacht hatte, begaben wir uns auf den Rückweg. Ich probierte noch ein paar Schüsse aus und der Bogen war gigantisch. Da ich nicht riskieren wollte, dass er kaputt ging, nahm ich ihn mit zurück ins Schloss.
„Habt ihr bei euch eigentlich auch Training und verschiedene Klassen, in denen ihr ausgebildet werdet?“, fragte ich, während er mich über einen umgefallenen Stamm führte.
„Ja, alles was mit Schule zu tun hat, ist bei den Blue Eyes ziemlich ähnlich wie hier.“
„Und warum bist ausgerechnet du dieser Austauschschüler geworden?“
Er grinste mich an. „Weil ich eben so unwiderstehlich bin.“
Ich verdrehte die Augen und wartete auf eine richtige Antwort, doch sie blieb aus. Entweder Luan war ein ziemlich stark ausgeprägter Angeber oder er verheimlichte mir etwas. Ich konnte keins von beidem ausschließen.
„Kannst du mir mal deine Kräfte zeigen?“, fragte er nach einer Weile. „Ich meine, das was Jess gezeigt hat, war jetzt nicht wirklich krass. Das von May war schon besser …“ Er sah mich provokant von der Seite an. „Aber ich glaube, du hast noch mehr drauf.“
Ich errötete leicht. „Warum sollte ich besser sein als die anderen?“
Luan hielt mich an den Handgelenken fest und drehte mich zu sich um.
„Weil du anders bist“, flüsterte er und sah mich eindringlich an. Seine dunkelblauen Augen bekamen einen leichten Schimmer und mir drohte, mich in ihren Tiefen zu verlieren.
Als ich auf seine mehr als merkwürdige Aussage nicht reagierte, verzogen sich seine Lippen wieder zu diesem arroganten Grinsen. „Bist du noch da oder hab ich dich schon in meinen Bann gezogen?“, hörte ich seine tiefe Stimme neben meinem Ohr.
Gereizt entzog ich mich seinem Griff und wich seinen funkelnden Augen aus.
„Ich bin nicht anders!“, blaffte ich und zog die Brauen zusammen. Wie sehr ich es hasste, wenn die Leute mir sagten, ich sei nicht wie die anderen Kinder in meinem Alter. Ich wollte einfach normal sein!
So ganz verstand ich sowieso nicht, was an mir so anders war. Ich konnte nicht besonders gut mit Menschen, ja, das stimmte. Warum, wusste ich auch nicht und zu ändern war es ebenfalls nicht.
„Doch bist du, und das weißt du auch“, widersprach er. Als er den geringen Abstand zwischen uns zunichte gemacht hatte, wurde ich von einer plötzlichen Hitze umgeben, die eindeutig von ihm ausging. Ein leichter Schauder lief mir den Rücken hinab, ich bekam Gänsehaut.
Luans Augen wurden heller. Das tiefe Blau wurde von mehreren grellgelben Streifen abgelöst, die mich fast blendeten. Er sah mich eindringlich an und seine dichten Wimpern zuckten kurz. Mir blieb die Spucke weg. Luan war tatsächlich ein Mutant! Aber wie …?
Plötzlich riss er erschrocken die Augen auf und stieß mich nach hinten.
Ich kam aus dem Gleichgewicht und taumelte rückwärts, bis mir etwas Spitzes das dünne T-Shirt aufschlitzte und sich in meine Haut bohrte.
„Mist“, hörte ich Luan leise fluchen. Er legte mir eine Hand auf den Rücken und zog mir das stachelige Etwas aus der Haut. Ich zuckte zusammen und rieb mir die offene Stelle.
Er ließ die Ranke fallen und rümpfte die Nase.
Ich schluckte und suchte seinen Blick, er wich mir aus.
„Ich geh zurück ins Schloss“, knurrte er und drehte sich um.
„Warte!“, ich legte eine Hand auf seine Schulter, was ihn erschaudern ließ.
„Warte“, wiederholte ich leiser. Er drehte sich nicht zu mir um, als ich zu sprechen begann. „Deine Augen … du bist ein Mutant, stimmt’s?“
Seine Schultern bebten und ich konnte jeden einzelnen der durchtrainierten Muskeln spüren, die sich unter meinen Fingern anspannten.
„Du erzählst vollkommenen Schwachsinn“, fauchte er und zog seine Schulter vor, sodass meine Hand nach unten fiel. „Ich bin kein Mutant. Vielleicht solltest du dich lieber mal von einem Arzt untersuchen lassen.“ Mit diesen Worten fuhr er sich durchs Haar und stapfte in den Wald davon. Ich blieb verblüfft zurück.
Mit angestrengter Miene verstaute ich den Bogen und den Köcher in meinem Schrank, während ich darüber nachdachte, was im Wald passiert war. Nein, in einem war ich mir vollkommen sicher: Ich hatte mich nicht getäuscht. Ganz sicher nicht! Die gelben Streifen in seinen Augen waren wirklich da gewesen. Nur eins fand ich seltsam. Er schien es kaum selbst bemerkt zu haben, erst, als er meinen verwirrten Blick bemerkte. Und jetzt hasste er mich, oder was? Ich schnaubte und schlug die Schranktür zu. Dieser Typ war mir ein Rätsel – und ja, eigentlich konnte ich ihn überhaupt nicht leiden, aber verraten würde ich ihn trotzdem nicht. Vor allem, weil ich mich ihm irgendwie … verbunden fühlte. Es war dieser Schauder gewesen, der mich am ganzen Körper erfüllt hatte, und die Hitze, die von ihm ausgegangen war. Doch eine viel mächtigere Frage drängte sich in den Vordergrund: Wie war es möglich, dass er bei den Blue Eyes lebte? Warum lebte er überhaupt noch? Und warum um alles in dieser Welt machte mein Vater mit seinem Volk einen Austausch, wo er gerade Krieg gegen es führte?!
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