„Jetzt gesellt sich zu stumm auch noch brutal – keine gute Mischung.“
„Halt den Mund und zieh dich um!“, unterbrach er mich scharf.
Ohne ein weiteres Widerwort nahm ich die Sachen entgegen, die er mir hinhielt. Weiße Hose, weißes T-Shirt, weiße Schuhe, welch kreative Farbwahl. Hastig eilte ich an ihm vorbei und warf einen flüchtigen Blick auf Lous Bett. Decke und Kissen lagen ordentlich aufgeschüttelt da und von ihr fehlte jede Spur. Mit einem unguten Gefühl im Bauch zog ich mir die verschwitzten Sachen aus und die neuen über. Das grelle Weiß blendete mich förmlich, als ich meine Haare kämmte und mir eine Strähne hinters Ohr schob.
Als ich das Badezimmer wieder verließ, stand er an der Tür und musterte mich von oben bis unten. Dann brummte er in seiner unnatürlich rauen Stimme: „Nenn mich Dexter.“
Ich hob eine Augenbraue, verkniff mir aber einen dummen Kommentar und nickte. Dexter öffnete die Tür und platzierte seine schwere Hand auf meiner Schulter, als er mich den Gang hinabführte.
„Jetzt kannst du erst einmal etwas essen und danach darfst du einen Blick hinter die Flügeltür werfen.“ Er beugte sich zu mir hinab und ich spürte seinen Atem neben meinem Ohr. „Luan wird auch da sein.“
Ich konnte die Schmetterlinge in meinem Bauch nicht unterdrücken und ärgerte mich umso mehr darüber. Eigentlich sollte ich diesen Typen hassen. Immerhin hatte er mich verraten – meine Familie verraten.
Aber es war genau diese Familie, die dich dein ganzes bisheriges Leben lang angelogen hat. Sie wussten, was du warst, und haben es dir verheimlicht.
Mit versteinerter Miene lief ich den Gang entlang und versuchte, nicht auf die stechenden Blicke der Erwachsenen zu achten, die sich in meinen Rücken brannten. Schließlich hielt Dexter vor einer Flügeltür, die aussah wie jede andere in diesem verdammten Gebäude, und öffnete sie, um mich hindurchzuschieben. Ich zog meine Schulter vor und schaffte es, seinen Griff loszuwerden, aber nur, weil er es zuließ. Wir betraten einen großen Raum, der mit etlichen Stühlen und Tischen ausgestattet war. Die meisten waren leer, nur an drei von ihnen saßen jeweils zwei Leute, alle erwachsen, und unterhielten sich leise. Dexter wies mir einen Platz an der Wand zu und fragte mich, was ich essen wollte. Nachdem er einige Dinge aufgezählt hatte, entschied ich mich für einen Apfel und ein Glas Wasser. Beides holte er mir von einer Art Theke und schaute mir dann stumm beim Essen zu, was alles andere als schön war. Ich trank gerade den letzten Schluck aus, als ein Junge, grob mein Alter, den Raum betrat. Wie ich wurde er von einem erwachsenen Mann begleitet, der noch grimmiger wirkte als Dexter. Die Haare des Jungen waren weiß, er wirkte müde und war schmächtig. Doch mein Blick wanderte sofort weiter zu seinen Augen. Sie waren hellgrau mit violetten Punkten um die Pupille. Die beiden kamen direkt auf uns zu und setzten sich an unseren Tisch.
Der Junge sah mich verlegen an und wich dann meinem Blick aus.
„Das ist David“, stellte Dexter vor. „Er wurde am selben Tag eingeliefert wie du und ihr werdet wahrscheinlich zusammen durch die Säuberung sowie die Vorbereitungen gehen.“
Ich versuchte ein Lächeln. „Hi, ich bin Nell.“
David hob den Kopf und die violetten Punkte in seinen Augen begannen zu leuchten. Er hob kurz die Hand, bevor er sie wieder unter dem Tisch verschwinden ließ.
„Carter“, Dexter wandte sich an Davids Begleiter. „Ist Amber soweit?“ Carter nickte, immer noch die grimmige Miene im Gesicht.
„Gut.“ Dexter erhob sich und platzierte wieder seine Hand auf meiner Schulter. Diesmal versuchte ich nicht, sie abzuschütteln.
„Wir kommen nach, wenn der Junge etwas Anständiges gegessen hat“, rief uns Carter hinterher, als wir den Raum verließen.
Als wir unter uns waren, drehte ich den Kopf und sah Dexter von der Seite an. Um seinen Mund hatte sich ein angespannter Zug niedergelassen und er blickte stur geradeaus. „Was haben Sie damit gemeint, dass David und ich zusammen zur Säuberung und Vorbereitung gehen?“
Er hob eine Braue. „Wir sind plötzlich beim Sie?“
Ich verdrehte die Augen. „Dann eben du.“ Auch wenn es sich merkwürdig anfühlte, ihn so anzusprechen.
„Das, was ich gesagt habe, meinte ich auch so“, war seine Antwort.
Nachdem wir etliche Türen und Gänge passiert hatten, blieb Dexter vor der Flügeltür stehen, die ich bereits kannte. Da er es erwähnt hatte, wusste ich auch, dass nun der nächste Tag war, doch das beruhigte mich keinesfalls.
Abteil 1 begrüßte mich mit einem trägen Plopp, als die Tür aufging und wir hindurchtraten. Vor mir tat sich ein Raum auf, der etwas größer war als der, in dem ich gefrühstückt hatte. An den Wänden standen kleine, silberne Tische, auf denen Spritzen lagen oder andere medizinische Utensilien verteilt waren, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Hinter einem Tisch in der Mitte des Raums saß Amber Notker und musterte mich aus ihren wachsamen roten Augen.
Und neben ihr stand Luan.
Seine dunkelblonden Haare wurden durch Gel zurückgehalten. Die breiten Schultern waren angespannt und seine Züge kühl, wie ich es von ihm nicht kannte. Und seine Augen … Die grell-gelben Streifen begannen zu glühen, als er mich sah, und hoben sich dadurch außergewöhnlich vom dunklen Blau ab, das sie umgab. Doch ihnen fehlte jeder Funke von Menschlichkeit oder Spott, wie ich es sonst gewohnt war. Ich suchte seinen starren Blick, doch als er es merkte, wandte er sich ab.
„Wie ich sehe, hast du die Laserstrahlen gut überstanden“, brach Amber Notker das unangenehme Schweigen. Ich drehte ihr den Kopf zu und sah sie an. „Die Creme von gestern, weißt du nicht mehr?“, fragte sie und kam um den Tisch herum auf mich zu.
Automatisch wich ich einen Schritt zurück und stieß gegen Dexters Brust. „Ja, ich erinnere mich.“
Sie lächelte breit. „Schön.“ Ein paar Augenblicke stand sie einfach da und musterte mich, dann klatschte sie in die Hände und ging zurück zum Tisch. „Wie du inzwischen bestimmt mitbekommen hast, befinden wir uns in Abteil 1, der Säuberung.“ Sie stützte sich an der Kante des Tisches ab und ihre roten Augen bekamen einen beunruhigenden Schimmer. „Die Säuberung bedeutet nichts weiter, als dass ich dich untersuchen werde und deinen Namen in eine Liste eintrage, in der alle Mutanten von A bis Z zu finden sind.“
Aha.
Amber Notker stieß sich mit den Handflächen ab und ging mit langen Schritten durch den Raum zu einem der Tische. Sie griff nach einem Blutdruckmessgerät und kam damit zu mir. Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf meiner Stirn, als sie es mir mit kalten Händen umlegte. Angestrengt starrte sie auf meinen Oberarm, dann hellten sich ihre Züge auf. „Sehr schönes Ergebnis.“
Zufrieden ging sie wieder und kam mit einer Spritze zurück.
Mir schwand langsam endgültig die Kontrolle.
Die Rothaarige reinigte meine Armbeuge, doch bevor sie mir etwas unter die Haut schob, dem ich absolut nicht vertraute, zog ich meinen Arm zurück.
„Ich will das nicht“, sagte ich mit zittriger Stimme.
Amber Notker hob eine Braue. „Was du willst, zählt hier nicht.“
Sie sah mich mit gespieltem Mitleid an. Mein Blick schweifte zu Luan, der immer noch stur an mir vorbeistarrte, und ich wurde wütend. „Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Ich weiß nicht, was ihr von mir wollt. Außerdem sind meine Eltern verschwunden und ich habe erfahren, dass mein Vater gar nicht mein Vater ist und habe mich bisher über nichts beschwert. Aber so langsam finde ich, sollten mir mal einige Fragen beantwortet werden.“ Meine Stimme überschlug sich fast und jetzt endlich sah Luan mich an. Ich hatte selbst keine Ahnung, warum ich plötzlich so mutig war und meine Gedanken laut ausgesprochen hatte, doch sobald ich die Angst in seinen Augen entdeckte, bereute ich es.
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