„Es sind Ahnen, oder nenn sie meinetwegen Elementare. Lea kam an einen, weil er sich sie ausgesucht hat. Oder, wenn es nach Lea geht, dann war es eine ‚sie‘.“
„Wenn es nach Lea geht? Wie meinst du das?“
„Ich sehe in den Ahnen feurige Kugeln. Auch Geralt, der mit Lea zusammen in das Ritual reinplatzte, sah sie so. Doch Lea erzählte uns, nachdem der Ahne in sie gefahren war und sie aus einer kurzen Bewusstlosigkeit erwachte, etwas anderes. Sie erkannte Gesichter in den feurigen Kugeln, und jene, die sie verfolgte, besaß wohl ein weibliches Antlitz. Und nur einen Lidschlag, bevor sie durch Leas Mund in ihren Körper drang, hat die Frau sie angelächelt.“
„Seltsam!“
„Und da ist noch was. Obwohl Lea in die Nähe mehrerer Ahnen gekommen war und sogar einen verschluckte, machte ihr die Hitze nichts aus. Zudem konnten Geralt und ich beobachten, wie ihre Augen glühend rot aufleuchteten, als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte. So wie die Augen des Magmarosses, als sie seine Figur berührte.“
„Dann hat sie wohl auch schon eine weitere Gabe erhalten.“
3
Lea stand an der Reling und atmete die kühle Nachtluft ein. Als sie jedoch für einen Moment ihre Augen schloss, sah sie direkt in die tiefschwarzen Augen des Dunklen. Und ganz nah an ihrem Ohr vernahm sie ein finsteres Knurren. Erschrocken riss sie die Augen auf und wandte den Kopf nach links, da von dort das Knurren erklungen war. Aber dort war niemand. Ein eisiger Schauer überlief sie.
„Wie kann das sein?“, fragte sie sich.
Sie tastete über ihren Hals und fühlte stechende Schmerzen.
„Ob dieses Flammenwesen damit zu tun hat?“
Lea zermarterte sich das Hirn, auch über die anderen Dinge, von denen Respa und Mo gesprochen hatten.
„Was hat das bloß alles zu bedeuten?“, flüsterte sie in den Wind.
„Was meinst du?“, fragte Rion, der urplötzlich neben ihr stand.
Lea zuckte zusammen.
„Wo kommst du so plötzlich her?“
„Ich stehe schon eine ganze Weile hinter dir. Aber sag, wie geht es dir? Du siehst mitgenommen aus.“
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es ist so viel passiert in den letzten Stunden.“
Rion legte einen Arm um ihre Schultern.
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Ja, natürlich.“
„Wie hast du den Hai dazu gebracht, euch zu helfen? Heute Morgen, das hätte ich noch als glücklichen Zufall gewähnt. Aber als er euch vorhin zum Boot brachte …“
Er unterbrach sich seufzend und bedachte Lea mit einem Kopfschütteln.
„Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll“, meinte er.
„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Als ich Getica hinterhergetaucht bin und dieser Fischmann uns in seinen Fängen hatte, habe ich gedanklich um Hilfe gerufen. Der Hai hat mich anscheinend gehört. Er tötete das Wesen und bewahrte uns anschließend vor dem Ertrinken.“
„Geralt hat mir von der Kreatur erzählt. Ich begreife trotzdem nicht, wie dich der Hai verstehen konnte, oder diese seltsame Kreatur.“
Lea warf die Hände in die Luft.
„Ich weiß es doch auch nicht! Am besten fragst du Mowanye. Er meint, ich würde eine Gabe besitzen, die es mir erlaubt, mit Tieren zu sprechen. Ich hielt ihn daraufhin für verrückt, bis er mir mitteilte, dass magische Fähigkeiten vererbt werden können.“
Rion bekam große Augen.
„Vererbt?“
„Weißt du, ob meine Mutter über eine solche Gabe verfügte?“
„Deine Mutter? Ich … weiß nicht“, druckste er herum.
„Du hast mir noch nie etwas über sie erzählt. Warum eigentlich nicht?“
Rion seufzte und wich ihrem Blick aus.
„Ich weiß, Lea. Und es tut mir auch leid. Ich verspreche dir, wenn das hier vorbei ist, werde ich dir alles erzählen.“
„Das würde mich sehr freuen.“
Vorne im Bug schrie plötzlich jemand auf. Rion reagierte sofort und lief los.
„Geh hinunter und bleib dort“, rief er ihr über die Schulter hinweg zu.
Im Fackelschein konnte Lea die Männer sehen, die mit Speeren wild auf etwas einstachen.
„Was ist da los?“, murmelte sie und wandte sich der Luke zum Unterdeck zu, da sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.
Die Abdeckung stand noch offen. Irgendetwas schlängelte sich soeben hindurch und verschwand in der dunklen Öffnung. Lea überlegte nicht lange und sprintete hinterher. Bereits auf der steilen Treppe hörte sie aufgeregte Schreie, dennoch schloss sie die Luke über sich. Dann zog sie den Dolch und polterte eilig die Stufen hinab.
Im Lagerraum liefen die Frauen durcheinander, und Mo kam gerade aus Geralts Kajüte gestürmt.
„Was ist passiert?“, fragte er alarmiert.
Lea achtete nicht auf ihn und fragte die Frauen: „Wo ist es?“
Getica deutete mit zittriger Hand in eine Ecke, in der sich einige aufeinandergestapelte Säcke türmten.
„Hat es euch angegriffen?“, fragte Lea, als sie vor dem Stapel in die Hocke ging. Sie versuchte, das Tier oder was auch immer es war zwischen den Lücken zu entdecken.
„Es klatschte die Treppe runter und ging sofort auf die Kinder los. Susan hat danach getreten, traf es am Kopf und dann verschwand es in der Ecke“, antwortete Livilia.
„Was ist es?“, fragte Lea.
Niemand kam zu einer Antwort, denn in diesem Moment schoss etwas unter einem Sack hervor und auf Lea zu. Sie reagierte, indem sie den Dolch niederfahren ließ. Durch einen glücklichen Treffer nagelte sie es am Boden fest. Es wand sich zischend um den Dolch, und Mo, der neben Lea in die Hocke ging, meinte: „Es hat Ähnlichkeit mit einem Aal.“
Das Tier war gut einen Meter lang und so dick wie Leas Oberarm. Die graue Haut sonderte Unmengen von Schleim ab, aber da hörte die Ähnlichkeit mit einem Aal auch schon auf. Wo normalerweise der Kopf sein sollte, befand sich ein rundes Maul mit hunderten von nadelspitzen Zähnen, die in mehreren Reihen bis in den Rachen hinein reichten.
Mo bückte sich und begutachtete das seltsame Tier genauer.
„Es scheint keine Augen zu haben“, stellte er fest.
Lea stand auf und stellte einen Fuß einige Zoll unterhalb des vor Zähnen starrenden Mauls auf das Wesen. Dann zog sie den Dolch heraus und setzte diesen unmittelbar hinter dem vermeintlichen Kopf an, da, wo sie den Nacken vermutete. Die scharfe Klinge durchtrennte problemlos die ledrige Haut und das Fleisch, doch Lea wartete vergeblich auf den Widerstand der Wirbelsäule.
„Seltsam, das Vieh hat anscheinend keine Knochen im Körper“, meinte sie irritiert.
Der kopflose Körper zuckte und schlängelte sich wild hin und her, als Lea ihren Fuß wegnahm, doch der Kopf lag still. Mit dem Dolch drehte sie diesen auf die andere Seite, und sie sahen in ein großes blaues Auge.
„Es hat ein Auge, um genau zu sein“, sagte Lea und blickte Mo an.
„Gib mir mal einen leeren Sack.“
Mo reichte ihr einen, und Lea warf mit Hilfe des Dolches die Überreste des Wesens hinein und verknotete den Sack.
„Ich teile den Männern mit, wie sie die Viecher töten können“, sagte Lea und sah zu den Frauen, die wieder an der Wand kauerten.
Getica, Livilia und Susan wichen furchtsam ihren Blicken aus. Lea wandte sich Mo zu, der sofort ihre feuchten Augen bemerkte.
„Würdest du hier unten aufpassen?“
„Natürlich, Lea!“
Er beobachtete, wie Lea zur Treppe eilte und sah dann entgeistert zu den Frauen. Als das Geräusch der zufallenden Luke ertönte, schnaufte er verärgert.
„Das kann doch wohl nicht euer Ernst sein. Nur weil sie eine besondere Gabe besitzt, lasst ihr sie jetzt im Stich? Weil sie anders ist? Sie hat euch soeben vor diesem Biest beschützt.“
Er wandte sich Getica zu und herrschte sie erbost an: „Und gerade du! Lea hat vorhin ihr Leben für dich riskiert. Obwohl du sie derart hintergangen hast.“
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