Seufzend schüttelte er den Kopf, bis Respa sprach.
„Ja, und dabei weiß sie noch nicht einmal alles. Und ich denke, das ist auch besser so. Es ist noch zu früh! Wir müssen warten, bis sich weitere Attribute zeigen.“
„Sehe ich auch so. Derzeit hat sie genug zu verarbeiten.“
„Stimmt es, dass Rion sie geschlagen hat?“
„Ja, aber es ist nicht wie du denkst. Es war Sorge, die ihn dazu verleitet hat“, sagte Mo.
Respa ergriff sein Handgelenk.
„Zu ihrem Wohl sollten wir versuchen, miteinander zu arbeiten. Wir müssen sie beschützen, auch vor ihrem besorgten Vater.“
Mo nickte überrascht, denn bisher waren Respa und er stets uneinig gewesen, was Melea betraf. Dennoch war er gespannt auf die Zusammenarbeit mit der Hexe.
„Zunächst sollten wir uns über unsere Visionen austauschen. Sie ähneln sich zwar, aber ich möchte ausschließen, dass wir etwas übersehen oder sogar falsch deuten“, meinte Respa.
Mo ging zur Tür und schloss diese.
„Also gut, Respa. Aber zuvor sollte ich dir vom Untergang meiner Heimat berichten.“
„Was hat das mit Melea zu tun?“
„Deine Visionen handeln nicht nur von ihr, sondern auch von einem feindlichen Heer, das sich erhebt. Einem Heer, wie man es in unserer Welt noch nie gesehen hat. Nicht wahr?“
Die Alte nickte nur, woraufhin Mowanye den Stuhl heranzog und sich vor sie setzte.
„Diese Kreaturen sind bereits seit etlichen Jahresumläufen in der bekannten Welt. Sie haben meine Heimat überrannt, und ich überlebte als Einziger.“
„Was sagst du da?“
„Es begann in meiner Heimat, einer kleinen Inselgruppe weit im Süden. Mein Volk lebte auf der größten Insel, wir nannten sie Ruls. In der Mitte der Insel erhob sich ein großer Berg, der ab und an Feuer spie. Und wenn dies geschah, flüchteten wir auf eine der drei kleineren Inseln, die Ruls umgaben. Denn mit den glühenden Feuerströmen kamen auch andere Gefahren, aber dazu später mehr.“
„Was interessieren mich die Gefahren eines Vulkans? Wir haben wahrlich andere Probleme.“
„Sie werden dich garantiert interessieren, weil Melea einen meiner Feuerahnen in sich trägt und ich in einer Vision sah, dass ich ihr etwas geben muss.“
„Einen was?“
Mo seufzte anhaltend.
„Unterbrich mich nicht ständig, und du wirst es heute noch erfahren. Ansonsten sitzen wir wahrscheinlich morgen noch hier.“
„Dann rede nicht um den heißen Brei herum“, maulte sie.
„Unser Dorf befand sich in der Nähe eines langen Sandstrandes. Ich war damals etwa so alt wie Melea heute. Alles nahm seinen Anfang mit einem aufziehenden Unwetter und seltsamen Lichtspiegelungen im Meer.
Unser Oberhaupt rief die Schamanen und Ältesten der Insel zusammen, um ein Ahnenritual durchzuführen. Ich war ebenfalls dort, denn ich war bei einem Schamanen in der Ausbildung.“
„Oh je, die Arbeit hätte er sich sparen können.“
Mo räusperte sich ungehalten, sprach aber weiter.
„Unser Dorf besaß vier Schamanen, und jeder von ihnen stand für ein Element: Wasser, Luft, Erde und Feuer. Höchst selten beherrschte ein Schamane zwei Elemente, und noch nie kam es vor, dass jemand drei oder vier in sich vereinen konnte. Da ich ein Schüler war, durfte ich nur beobachten. Mein Element war das Feuer, und so hatte sich mein Augenmerk vorerst auf den Feuerschamanen gerichtet. Aber ich spürte auch eine Verbundenheit zu den anderen Elementen, daher schaute ich auch den übrigen Schamanen über die Schultern.
Wenn alle Elemente gerufen wurden, führten wir die Rituale am Strand aus.
Das Ahnenritual war etwas Besonderes und wurde nicht sehr oft durchgeführt. Die Schamanen riefen dabei die Seelen unserer Verstorbenen und baten sie um Hilfe.“
„Was hat das mit den Elementen zu tun?“
„Wir glauben, dass nach dem Tod unsere Seele in einem dieser Elemente wartet, bis sie schließlich wiedergeboren wird.“
„Die Geister, welche ich rufe, um Visionen zu erhalten, haben absolut nichts mit den Elementen zu tun. Und sie sind ebenfalls Ahnen von irgendwem.“
Mo blickte sie erbost an, worauf Respa genervt die Augen verdrehte.
„Ist ja gut, rede weiter. Was geschah während des Rituals?“
„Die Schamanen nahmen ihre Plätze ein und setzten sich Rücken an Rücken und mit untergeschlagenen Beinen in den Sand. Einer saß direkt an der Wasserlinie zum Meer, der dahinter an einem Lagerfeuer. Der Erdschamane grub seine Hände in den Sand, und der dahinter Sitzende hielt seine Hände in die Höhe. Sie flüsterten ihre Beschwörungen, und ich umkreiste sie langsam, weil ich nichts verpassen wollte.
Zur Abenddämmerung hin wurde der Sturm immer heftiger, und Regen setzte ein. Und in dem Moment zeigten sich die ersten Ahnen. Sie umkreisten den jeweiligen Schamanen, und es wurden stetig mehr. Die Luftelementare, bestehend aus dichtem, waberndem Nebel, schwebten um den Kopf des Schamanen. Um den Erdschamanen erhoben sich ebenfalls die Ahnen, groß wie eine Faust. Ihre tropfenförmigen Körper bestanden aus Sand, und sie bildeten Gliedmaßen aus, um am Schamanen emporzuklettern. Die Wasserelementare flossen an den Armen ihres Schamanen hinauf, bis auch sie sich zu Tropfen formten. Sie vereinnahmten seinen Oberköper, Hals und Kopf. Tja, und die Feuerahnen haben eine rundliche Form. Auch sie umkreisten ihren Schamanen, so wie die Luftelementare. Alles verlief völlig normal, bis ganz plötzlich sämtliche Ahnen zum Stillstand kamen. Und anstatt sich den jeweiligen Schamanen zu öffnen, scharten sie sich alle um eine andere Person.“
„Um dich“, hakte Respa nach, da er nicht weitersprach.
„Die Wasser- und Erdelementare krochen an mir empor, und die Feuer- und Luftelementare umkreisten mich, wobei sie immer schneller wurden. Ich bekam mit, wie die Schamanen entsetzt aufsprangen und mit Zaubersprüchen versuchten, die Ahnen zu verbannen, was jedoch nicht gelingen wollte.“
„Vier Schamanen, und es gelang ihnen nicht, eure Geister zurückzupfeifen?“
„Ahnen, nicht Geister! Und nein, es war ihnen nicht möglich“, antwortete Mo, wobei er sie ärgerlich ansah.
Respa hob abwehrend die Hände.
„Anstatt gleich aus der Haut zu fahren, könntest du mal langsam zum Ende kommen.“
„Ich wäre schon längst fertig, wenn du mich nicht ständig …“
„Ach was, erzähl endlich weiter.“
Mo schloss seine Augen und atmete tief durch, bevor er weitersprach.
„Ich brach zusammen, als die Seelen etwas in meinem tiefsten Inneren berührten. Dann verlor ich den Halt zur realen Welt.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, wenn mir die Ahnen etwas mitteilen wollen, bemächtigen sie sich meines Geistes. Auf diese Weise können sie mich mitnehmen und lassen mich die Antworten sehen. An jenem Abend war das allerdings anders. Ich hatte keine Fragen gestellt, und dennoch zeigten mir die Ahnen unglaubliche Dinge, teils aus der Vergangenheit und Gegenwart. Aber vor allem die Zukunft spielte eine Rolle.
In meiner ersten Vision offenbarten sie mir ein magisches Tor, das sich am Grund des Meeres öffnete. Es war riesig und flimmerte in verschiedenen Grüntönen. Zunächst war ich überwältigt und fasziniert von diesem Anblick, was sich aber schnell änderte. Denn kurz darauf strömten unzählige Wesen aus dem Portal. Es waren so unglaublich viele, und sie wirkten irgendwie missgebildet. Aber meine Sicht verschwamm, und ich sah Ruls in der Morgendämmerung. Der Sturm war vorbei, und die aufgehende Sonne tauchte die Strände in blutiges Rot. Das Licht passte zu den Kreaturen, die sich an die Ufer zogen.
Zuerst dachte ich, sie würden sterben, denn sie krümmten und wanden sich kreischend im Sand, aber das täuschte.“
„Inwiefern?“
„Bei diesen Kreaturen handelte es sich um Mischwesen. Ihre Oberkörper muteten fast menschlich an, doch anstelle der Beine besaßen sie Schwanzflossen, wie die von Nixen oder Wassermännern. Dies änderte sich, sobald sie vollständig am Ufer waren. Denn bereits nach kurzer Zeit zerfielen die Flossen, und darunter kamen Beine zum Vorschein. Dies ging recht schnell vonstatten, und schon bald standen sie auf ihren Füßen und marschierten in mein Dorf.
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