„Macht es euch bequem, dort liegen noch einige Decken“, sagte er.
Er ging zu Lea und lächelte sie aufmunternd an.
„Kommst du bitte mit mir?“
Lea folgte ihm in seine Kajüte, wo sie sich zunächst umsah, nachdem er Licht gemacht hatte. An der Wand vor ihr standen ein Schreibtisch und ein Stuhl. Die rechte Seite füllte ein Bett aus, auf dem einige Felle und Decken lagen, und an der linken Wand stand eine mittelgroße Holztruhe mit Eisenbeschlägen. Der Raum maß vielleicht vier Meter in der Breite und fünf in der Länge, und dementsprechend gab es noch genug Bewegungsfreiheit. Leas Blick fiel auf Geralt, der sich soeben daranmachte, das Schloss der Truhe zu öffnen. Dabei fluchte er leise vor sich hin, bis es endlich aufsprang und er den Deckel anheben konnte. Einen Moment lang kramte er darin und drehte sich schließlich zu ihr um. Er reichte ihr ein längliches Bündel und meinte: „Ich möchte, dass du den an dich nimmst und auch trägst.“
Lea nahm es zögerlich entgegen, öffnete die Verschnürungen und schlug den Stoff zurück. Ehrfürchtig zog sie den langen Dolch aus einer Lederscheide. Diese bestand aus gehärtetem Leder, auf der ein schönes Bild eingebrannt war. Unter einem großen Kirschbaum mit ausladenden Ästen stand ein äsender Hirsch, der sie anzusehen schien. Der Dolch mit der leicht gekrümmten Klinge war ein absolutes Meisterwerk. Geralt bemerkte ihre Faszination und erklärte: „Der Griff besteht aus Hirschhorn, und die Klinge wurde aus Zwergen-Erz geschmiedet. Was die Schriftzeichen auf der Klinge bedeuten, kann ich dir leider nicht sagen. Das musst du selbst herausfinden, er gehört dir.“
Lea bestaunte immer noch den Dolch, der so lang war wie ihr Unterarm. Die Klinge schimmerte blaugrau und war rasiermesserscharf, wie sie leider rasch feststellte. Sie schob sich den blutenden Daumen in den Mund und Geralt nahm ihr den Dolch aus der Hand, um ihn in die Scheide zurückzustecken.
„Dass er sehr scharf ist, brauche ich dir ja jetzt nicht mehr zu erklären“, sagte er lächelnd.
Er nestelte an den Riemen herum, die an der Scheide befestigt waren, und deutete auf ihr Bein.
„Darf ich?“
Lea nickte und beobachtete, wie er den Dolch seitlich an ihrer rechten Wade festband.
„Ich würde dich gerne etwas fragen.“
Geralt erhob sich und sah in ihre moosgrünen Augen, in denen die winzigen goldenen Sprenkel im Licht der Öllampe funkelten.
„Dann frag“, sagte Lea nach einigen Herzschlägen, da ihr sein durchdringender Blick unangenehm wurde.
„Mich würde interessieren, wie du das mit dem Hai angestellt hast.“
Lea seufzte leise.
„Wenn ich das selbst begriffen habe, werde ich es dir erklären.
Versprochen.“
Geralt sah sie noch einen Moment forschend an, nickte dann und wandte sich wieder seiner Truhe zu. Er nahm noch einige Bündel heraus, die er auf den Schreibtisch legte. Dann kam er wieder auf Lea zu.
„Darf ich mal?“
Er zog sie in den Raum hinein, da sie nach wie vor im Durchgang stand, und schloss die Tür. An der Wand dahinter hing eine Schwertscheide mitsamt Schwert. Er nahm es herunter und legte es sich um.
„Lea, ich möchte, dass du hier bleibst und zumindest versuchst, etwas zu schlafen. Du kannst dich hier wie zu Hause fühlen.“
Er schob sie zum Bett, bis sie sich zwangsläufig darauf setzen musste, und hockte sich vor sie.
„Und mach dir bitte keine Gedanken um die anderen, sie werden sich schon wieder beruhigen. Ich meine, nun ja … wann sieht man schon mal eine junge Frau, die anscheinend mit einem ausgewachsenen Bullenhai befreundet ist? Und sich auch noch mit diesem unterhält. Mir ist fast das Herz stehengeblieben. Aber du hast Getica das Leben gerettet, und das haben sie auch gesehen. Glaube mir, die Vernunft wird siegen. Sie werden aufhören, dich so anzusehen.“
Er streichelte sanft über ihre Wange.
„Ich muss jetzt nach oben, bitte schlaf ein wenig.“
Geralt erhob sich, drückte Lea einen Kuss auf die Stirn und nahm die Sachen vom Tisch.
„Danke“, sagte sie leise.
„Du musst mir nicht danken.“
„Geralt?“
Er wandte den Kopf zu ihr.
„Ja?“
Ihre Stimme bebte leicht.
„Dieses Wesen, das Getica und mich töten wollte …“
Geralt sog scharf die Luft ein und unterbrach sie.
„Was denn für ein Wesen?“
„Es hatte Getica über Bord gezogen, und ich bin ihr daraufhin hinterhergesprungen.“
Geralt hockte sich wieder vor sie und legte die Bündel zur Seite.
„Bei den Göttern! Ich dachte, sie wäre aus dem Boot gefallen und durch die Strömung unter Wasser gezogen worden?“
„Dieses Wesen … es hatte lange Fangarme, wie die eines Kraken.“
„Du meinst, ein Riesenkalmar hat sie aus dem Boot geholt?“
Lea schüttelte den Kopf und schloss die Augen, während sie zitternd durchatmete.
„Was dann?“
„Du wirst mir wahrscheinlich nicht glauben. Ich kann ja selbst kaum glauben, was ich da unten gesehen habe.“
„Natürlich werde ich dir glauben. Also, erzähl! Was ist passiert?“
„Ich tauchte Getica hinterher und bekam ihre Hand zu fassen. Doch als ich sie zu mir ziehen wollte, durchfuhr ein heftiger Ruck meinen Arm, und ich wurde mit ihr in die Tiefe gezogen. Dabei fiel mir auf, dass sich irgendwas um ihre Körpermitte gewickelt hatte. Es leuchtete fahl, und ich zog mich heran, um danach zu greifen. Aber meine Hände rutschten ständig daran ab. Ich dachte noch, dass es wie ein Fangarm aussah, als sich auch schon einer um mein Handgelenk wickelte. Ein stechender Schmerz schoss daraufhin durch meine Hand, bis in die Schulter hinauf. Ich ließ Geticas Hand los und versuchte, den glitschigen Fangarm von meinem Handgelenk zu lösen, was allerdings höllisch wehtat. Tja, und dann sah ich den Angreifer.“
Erneut schloss Lea die Augen, und Geralt ergriff ihre zitternden Hände, als sie leise weitersprach.
„Ich bekam allmählich Atemnot, trotzdem konnte ich den Blick nicht abwenden. Das Wesen besaß silbergraue, fahl leuchtende Haut. Vom Stirnansatz bis weit über den Rücken hatte es eine stachelige Rückenflosse. Drei große hellblaue und lidlose Augen starrten mich an, sie befanden sich auf der Stirn des Wesens. Es hatte ein vor Zähnen starrendes Maul, drei Fangarme an jeder Körperseite, und von der Hüfte abwärts folgte eine Schwanzflosse.“
Sie blickte kurz auf und fragte: „Du kennst doch das alte Buch von Vater? Das mit den Mythen und Sagen?“
Geralt konnte nur nicken, da sein Mund und der Hals staubtrocken waren.
„Dann hast du bestimmt die Zeichnung von der Nixe darin gesehen.“
Erneut nickte er.
„So eine Schwanzflosse hatte das Wesen auch.“
Lea starrte nach unten auf seine Hände, die ihre hielten.
„Wie konntet ihr euch befreien?“, fragte er heiser.
„Gar nicht! Dieses Wesen wollte uns töten, und ich bekam Panik, als Getica jegliche Gegenwehr einstellte. Ich sah dem Wesen in die Augen und flehte in Gedanken, dass es uns freigeben soll. Dabei zerrte ich an meiner Hand, so lange, bis es den Kopf schieflegte und mich ganz überrascht ansah. Dann wiegte es den Kopf hin und her, als wenn es überlegen würde, und wieder sagte ich in Gedanken: ‚Lass uns los!‘
Daraufhin entblößte es seine spitzen Zähne zu einem grausigen Grinsen und schüttelte langsam den Kopf.“
„Warte mal! Meinst du etwa, es hat dich verstanden?“
„Ich weiß, wie sich das anhören muss, aber es ist so geschehen. Und nach dem, was Mo mir heute Nachmittag erzählt hat …“
Sie schüttelte leicht den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Was erzählte er dir denn?“
„Am besten fragst du ihn selbst. Ich kann nicht in Worte fassen, was er mir alles sagte.“
„Das werde ich, aber jetzt erzähl erst mal weiter.“
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