Unruhig ging er weiter und sammelte dabei ein paar Speere und Fackeln ein, die auf dem Deck herumlagen. Nach einem weiteren Blick über das Hafengelände öffnete er die Luke und verstaute die Sachen im Lagerraum. Eigentlich wollte er direkt wieder nach oben, ging dann aber doch in seine Kajüte. Der Schreibtisch stand noch in der Mitte. Er strich mit den Fingerspitzen über eine trockene Blutspur, bis seine Hand gegen die Holzschüssel stieß, aus der blutiges Wasser schwappte. Er packte sie und warf sie mit einem wütenden Schrei gegen die Wand. Kurz darauf ließ er den schweren Eichentisch folgen, der krachend in der Mitte auseinanderbrach.
Schwer atmend ließ sich Geralt aufs Bett sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen. Eine Weile saß er so da, bis er Schritte auf der Treppe hörte. Hastig wischte er sich übers Gesicht und atmete ein paarmal tief durch, als auch schon Halldor in der Tür stand. Der schaute sich ein wenig entsetzt um.
„Was ist denn hier passiert?“, fragte er.
Er musterte Geralt und bemerkte dessen gerötete Augen, überging diese aber. So wie Geralt die Frage nicht gehört zu haben schien.
„Was meinst du? Bist du bereit dazu, einen großen Bruder zu bekommen?“
„Denkst du wirklich, wir seien Brüder?“, fragte Geralt nach.
„Gewissheit werden wir gleich erhalten, wenn wir den Sekretär am Waisenhaus treffen. Aber ich glaube, wir können uns den Weg sparen.“
Er reichte Geralt seine Hand und zog ihn auf die Füße.
„Frag mich nicht, wieso. Aber ich spüre einfach, dass wir Brüder sind.“
„Mir geht es ebenso. Nur eine Sache siehst du absolut falsch.“
„Und die wäre?“
„Ich bin definitiv der Ältere von uns beiden“, meinte Geralt grinsend.
„Ganz sicher nicht!“
„Und ob!“
„Um dies endgültig zu klären, werden wir wohl doch zum Waisenhaus müssen.“
„Na, dann komm endlich.“
Geralt griff nach einem Sack, der auf dem Boden stand. Seines Wissens nach gehörte er Mowanye. Der würde die Sachen darin mit Sicherheit noch brauchen.
Wenig später saßen sie auf ihren Pferden und ritten auf schnellstem Weg zum Waisenhaus. Dort war vom Sekretär noch nichts zu sehen. Wieder einmal hieß es warten für Geralt. Jetzt fehlte nicht nur der Sekretär, sondern auch Halldor, der sich auf die Suche nach dem alten Mann begeben hatte.
Er setzte sich auf die alte und verwitterte Steintreppe, die ins Gebäude führte. Seine Gedanken kreisten mal wieder um Lea.
„Hätte ich doch nur den Mund aufbekommen, als ich ihr den Armreif schenkte. Ich Idiot!“
Zusammen mit dem Geschenk wollte er ihr eigentlich einen Antrag machen, doch in dem Moment hatte er kein Wort herausbekommen. Jetzt war es dafür zu spät, denn nachdem Rion den Armreif entdeckt hatte, konnte der sich wohl denken, was Geralt mit diesem Geschenk bezweckte. Kaum war Lea einen Moment nicht dagewesen, hatte er ihn darauf angesprochen. Und letztlich war Rion ihm an den Kragen gegangen.
„Wenn sie meine Tochter wäre, hätte ich wahrscheinlich auch so reagiert“, dachte Geralt missmutig.
Es gab eine Zeit, in der er seine Wirkung auf Frauen schamlos ausgenutzt hatte. Und Rion wusste von den dutzenden Frauen, die in seinem Leben bereits eine Rolle gespielt hatten. Aber das war seit etlichen Monden vorbei, was Rion ihm jedoch nicht glaubte. Aus diesem Grund hatte er ihm verboten, Lea einen Antrag zu machen. Allerdings hatte er ihm die Möglichkeit eingeräumt, sich zu beweisen.
„Wie soll ich das nur anstellen?“, fragte er sich leise.
„Was?“
Geralt blickte erschrocken auf und sah Halldor an, der lächelnd vor ihm stand.
„Wie lange stehst du schon da?“, fragte er misstrauisch.
„Eine Weile.“
Geralt erhob sich seufzend.
„Mach dir keine Sorgen. Helimus ist der beste Heiler, den es in den Reichen gibt.
Und unsere Königin hat ebenfalls unglaubliche Fähigkeiten. Melea wird es schaffen, Bruder.“
Geralt nickte, geriet aber ins Stocken. Seine Augen weiteten sich.
„Bruder?“
„Ja, jetzt ist es amtlich. Ich habe einen kleinen Bruder.“
„Ist bekannt, wer unsere Eltern sind?“
„Nein. Man fand uns auf dieser Treppe, eingewickelt in einem weißen Bärenfell. Bei mir lag ein Zettel, auf dem stand Erstgeborener.“
„Den hast du mir bestimmt abgenommen“, meinte Geralt.
Halldor klopfte ihm lachend auf die Schulter.
„Komm, lass uns etwas essen gehen.“
„Sollten wir nicht lieber in den Palast zurückkehren?“
„Nalia wird niemanden zu Melea lassen, solange die Heiler mit ihr beschäftigt sind.“
„Vielleicht ist Lea in der Zwischenzeit aufgewacht und …“
„Auch dann wird Nalia erst mal niemanden zu ihr lassen, abgesehen von Meleas Vater.“
Halldor schob Geralt vorwärts.
„Na, komm!“
Kurz darauf saßen sie in einem guten Gasthaus. Während sich Halldor durch eine Fleischplatte arbeitete, löcherte er Geralt nochmal mit Fragen über die vergangene Nacht. Nach seinem Mahl begann Geralt, Fragen zu stellen. So erfuhr er, dass Halldor bereits als Baby von einem jungen Ehepaar adoptiert worden war. Sein Ziehvater Bigelis tat damals seinen Dienst in der Stadtgarde und hatte sich mittlerweile zum Hauptmann der Stadtsoldaten hochgearbeitet. So war es kein Wunder, dass sein Ziehsohn ebenfalls den Weg eines Soldaten eingeschlagen hatte. Er bewies ein außergewöhnliches Talent mit dem Schwert, und in Dingen wie Strategie und Truppenführung machte ihm schon bald niemand mehr etwas vor. So arbeitete er sich sehr schnell hoch. Zuerst bei den Stadtsoldaten, und später in der Königsgarde. Nun war er mit seinen achtundzwanzig Sommern bereits General der königlichen Truppen.
„Wie hast du das alles in dieser kurzen Zeit geschafft?“
Halldor zuckte mit den Schultern.
„Eigentlich war es nie mein Ziel gewesen, General zu werden. Aber die Königin hielt es für angemessen. Ich ritt fast zwei Sommer lang durch Mesu, auf der Suche nach unserem verschollenen König. Auf diesem Wege habe ich einige Söldnerbanden
hochgenommen, die den Bauern und Lehnsherren das Leben schwergemacht hatten. Ich fand heraus, dass die Söldnerbanden für den gleichen Anführer arbeiteten. Ihn verfolgte ich einen halben Sommer quer durchs Reich. Zeitgleich suchten meine Männer und ich weiter nach unserem König. Wir gingen jedem noch so kleinen Hinweis nach, der zu seinem Verbleib führen konnte. Doch wir fanden weder ihn noch seine Männer.“
„Was wurde aus dem Anführer der Söldner?“
Halldor grinste schief.
„Die Geschichte ist fast aus dem Ruder gelaufen, als wir sein Lager aufspürten. Mit dreißig Bewaffneten marschierte ich dort ein. Allerdings wurde es brenzlig für uns, da wir nicht mit sechzig Söldnern gerechnet hatten. Aber wir haben es geschafft, nicht zuletzt durch die gute Ausbildung meiner Männer. Leider hatten wir auch einige Opfer zu beklagen.“
Halldor trank einen Schluck Bier, bevor er weitererzählte.
„Von meinen Männern überlebten nur neunzehn, von denen sechs schwer verletzt waren. Darunter auch ich.“
„Und die Söldner?“
„Dreiundzwanzig überlebten die Schlacht, acht waren sehr schwer verwundet, sodass wir ihnen an Ort und Stelle den Gnadenstoß gaben. Die anderen legten wir in Ketten und brachten sie nach Mesura, unter ihnen auch der Anführer. Sie sitzen nun im Kerker und erwarten das Urteil der Königin.
Ich bin seit zwei Monden wieder hier, und die Königin ernannte mich für meine Verdienste zum General.“
„Zu Recht. Du bist ein Held.“
Halldor winkte ab und sah zum Eingang, als die Tür aufgestoßen wurde. Er stand direkt auf und ging dem Soldaten der Hafenwacht entgegen, der eilig auf ihn zuschritt.
Geralt folgte ihm und bekam mit, wie Halldor eine kleine Schriftrolle zusammenrollte und unter seine Armschiene schob.
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