Halldor lächelte immer noch. Bis er die amüsierten Blicke der Leibwachen auffing, die Nalia hinterherliefen. Daraufhin machte er auf dem Absatz kehrt, um seinem Auftrag nachzukommen.
Die Königin eilte etliche Stufen hinauf und folgte einem ansteigenden Gang, der sich durch die Königsklippe zog. Hier gab es keinen Prunk, nur blanken Felsen. Alle fünf Meter beleuchteten Feuerschalen den Weg.
Von solchen Gängen gab es einige. Sie führten zu den Gemächern der Alchimisten und Magier, zu Alchemie- und Forschungshöhlen. Auch eine große Bibliothek gab es hier oben. Diese Abzweigungen ließ sie jedoch alle hinter sich, denn sie wollte zu ihrem Meistermagier.
Valamars Höhlen lagen hoch über dem Palast. Die Erbauer des Palastes hatten nicht nur die drei Gebäude in die Klippe integriert. Darüber befanden sich noch vier weitere Etagen, die jedoch nicht ausgebaut waren. Die vielen Höhlen sollten in Notzeiten als Schutz dienen. Hier war es stets kühl, sodass man über längere Zeit Lebensmittel lagern konnte, um zum Beispiel eine Belagerung auszusitzen. Zudem waren Gänge und Höhlen so angelegt, dass sie mit wenigen Soldaten zu verteidigen wären. Da es aber schon sehr lange Frieden gab, hatten sie die Höhlen umfunktioniert und den Alchimisten und Magiern zur Verfügung gestellt. Weit ab von den Palastbewohnern konnten sie hier oben ihren Experimenten und Forschungen nachgehen, ohne jemanden zu gefährden.
Nalia trat in eine große Höhle ein.
„Valamar, seid Ihr hier?“, rief sie.
Der Magier kam unvermittelt aus einem Seitengang und beugte ein Knie.
„Ich bin hier drüben, meine Königin.“
Er trug eine graue Robe, in deren viel zu langen Ärmeln seine Hände verschwanden.
„Was kann ich für Euch tun?“
Seine Ketten klimperten leise. Ein paar Funken stoben auf, als sich die Anhänger berührten. Das veranlasste Nalia zu einem Stirnrunzeln, doch sie ging an ihm vorbei und hielt auf einen dunklen Gang zu, der von zwei Wachen versperrt wurde. Die Männer traten hastig zur Seite, um ihre Königin passieren zu lassen.
„Kommt, Valamar. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich muss den Rat einberufen, und das auf schnellstem Wege.“
Der Magier schaute ihr verwundert nach, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann keuchte er entsetzt auf und beeilte sich, ihr zu folgen.
„Ihr wollt doch nicht die Garlitze wecken? Eure Hoheit, ich bitte Euch. Es gibt auch noch andere Boten.“
Die Königin reagierte nicht auf seine Worte und eilte weiter, bis sie ihr Ziel erreichte. Die lichtdurchflutete Höhle war mit Käfigen, hohen Regalen und drei Experimentiertischen ausgestattet. Mehrere Durchbrüche sorgten für Tageslicht und einen fantastischen Ausblick aufs Meer.
Nalia wartete ungeduldig auf Valamar, der nun endlich bei ihr ankam. Etwas außer Atem und seine Robe ordnend blieb er im Höhleneingang stehen.
„Valamar, wir haben wirklich keine Zeit. Ich brauche sechs Boten. Also beeilt Euch! Oder soll ich die Beschwörungen selbst sprechen?“
Seine Augen weiteten sich.
„Wieso sechs Boten? Für den Rat brauchen wir maximal zwei.“
Die Königin seufzte genervt.
„Ich brauche sechs. Eure Neugier muss vorerst warten, denn wie ich schon sagte – es eilt!“
Valamar rang nervös die Hände.
„Eure Hoheit! Wie Ihr wisst, verlangen sie nach Fressen, sobald sie erwachen. Und ich habe hier nicht so viele Ziegen.“
„Beginnt mit der Beschwörung! Die Ziegen sind bereits auf dem Weg hierher.“
Valamar sah sie noch einen Augenblick lang erschüttert an, dann verschwand er im hinteren Bereich der Höhle. Die Königin folgte ihm langsam und betrachtete die versteinerten Wesen an der Rückwand.
Die Garlitze wiesen Ähnlichkeit mit Bären auf. Sie waren jedoch größer und wuchtiger und besaßen kein Fell. Stattdessen hatten sie silberschimmernde Haut, die sich auch über die großen Schwingen spannte.
Valamar nahm eine Kette ab, an der ein fingerlanger grüner Kristall hing, und ging zum ersten Garlitz. Er befand sich auf Augenhöhe und drückte den Kristall gegen die Stirn des Wesens.
Der Magier flüsterte düstere und unverständliche Worte, die durch die Höhle hallten. Und jeder, der sie vernahm, bekam sofort eine Gänsehaut.
Nalia beobachtete Valamar genau. Auf seinem haarlosen Kopf bildeten sich Schweißtröpfchen, und beim fünften Garlitz begann seine Stimme zu zittern. Aber er führte die Beschwörungen bis zum Ende durch, was Nalia erleichtert aufatmen ließ. Valamar neigte schon mal dazu, etwas tollpatschig zu sein.
Nalia richtete ihre Augen auf den ersten Garlitz in der Reihe, dessen Verwandlung bereits begonnen hatte. Die Statue bekam feine Risse. Steinstaub rieselte zu Boden, und es knackte vernehmlich, als er eine Vorderpfote anhob. Der Stein platzte ab.
Das Meckern einiger Ziegen hallte zu ihnen. Valamar drehte sich um und eilte hinaus.
„Den Göttern sei Dank, gerade noch rechtzeitig“, hörte Nalia den Magier rufen.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf und ging ebenfalls in die andere Höhle. Dort standen drei Soldaten, jeder hatte vier Ziegen bei sich.
„Bindet je zwei Tiere an den Eisenringen fest!“
Dabei wies sie mit der Hand zu den Durchbrüchen.
„Danach geht auf Eure Posten zurück“, wies Nalia die Männer an.
Es dauerte einen Moment, weil sich die Tiere sträubten und an den Stricken zerrten, die um ihre Hälse lagen. Aber alle Gegenwehr nutzte nichts. Kaum waren die Männer draußen, kam der erste Garlitz aus der angrenzenden Höhle. Er ging steif und ungelenk, aber er witterte sein Futter und schnappte sich die erste Ziege. Die anderen Ziegen sprangen panisch durcheinander, und Nalia musste tief Luft holen. Es war wahrlich kein schöner Anblick, die armen Tiere in Todesangst zu sehen. Die magischen Wesen nahmen jedoch kein totes Fleisch an, und so blieb ihr keine andere Wahl.
Der Garlitz hatte die Ziege fast vertilgt. Knackende und berstende Geräusche erklangen, als seine starken Kiefer den Kopf zermalmten.
Von der Ziege blieb absolut nichts übrig, ebenso wenig von der zweiten, die er genauso schnell verschlang. So erging es auch den anderen Tieren, nachdem die übrigen Garlitze herbeigekommen waren.
Sichtlich zufrieden setzten sich die geflügelten Boten auf die Hinterbeine und warteten auf ihre Aufträge.
Nalia ging zum ersten und zog eine Lederrolle aus ihrem Beutel, die mit einem grünen Band verschnürt war. Sie streichelte dem Garlitz über den Kopf, als er diesen senkte, und flüsterte den Empfänger in sein aufgestelltes Ohr. Dann hielt sie ihm die Lederrolle hin, die er vorsichtig zwischen die Zähne nahm. Auf diese Weise verteilte sie auch die anderen Rollen und trat ein paar Schritte zurück. Jedem Einzelnen sah sie noch einmal in die grünen leuchtenden Augen.
„Habt ihr eure Aufträge verstanden?“, fragte sie.
Wie auf ein Kommando erhoben sich die magischen Wesen auf die Hinterbeine und senkten kurz die Häupter.
„Überbringt die Lederrollen. Und wartet auf eine Botschaft für mich. Erst wenn ihr diese erhalten habt, kehrt hierher zurück, und ihr werdet eure Belohnung erhalten. Nun macht euch auf den Weg. Die Zeit drängt!“
Die Garlitze sprangen aus den Durchbrüchen. Nalia wandte sich Valamar zu, der fragte: „Erklärt Ihr mir jetzt, was geschehen ist?“
Sie nickte und setzte sich in Bewegung.
„Ja, auf dem Weg nach unten. Ihr müsst einige Menschen kennenlernen, darunter einen Schamanen und eine Hexe. Es geht um die Beschwörung der Elemente, Zukunftsvisionen und die Gabe, mit Tieren zu sprechen. Des Weiteren werden wir ein fremdartiges Wesen begutachten.“
Nalia ging bereits durch den dunklen Gang und ließ einen sehr verwirrten Magier zurück.
„Valamar! Wollt Ihr nun mit mir kommen?“, ertönte Nalias Stimme.
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