Wegen dieses Summierungseffekts ist es für einen Trainer auch so schwierig, wenn seine Mannschaft nicht mehr zusammenhält, sondern in einzelne Grüppchen und Individuen zerfällt. Dann geht genau diese zusätzliche Kraft verloren. Dann steht Ihnen als Trainer wirklich nur die reine Summe der Einzelteile zur Verfügung, (möglicherweise sogar noch weniger, wenn sich die eigenen Spieler gegenseitig, ob absichtlich oder unabsichtlich, behindern). Und das ist gegen die meisten echten Mannschaften, auch wenn sie in ihren individuellen Möglichkeiten unterlegen sind, zu wenig, um zu gewinnen.
Foto: ©Lothar Linz
Deshalb wird auch so oft vom Teamgeist gesprochen. Der Teamgeist ist genau die Kraft, die keiner richtig beschreiben kann, aber jeder schon einmal erlebt hat. Die Kraft, die eine Mannschaft eint und jeden Einzelnen anspornt. Die Kraft, welche dem Außenseiter hilft, den Favoriten besiegen zu können.
3.2 Was eine soziale Gruppe ausmacht
Nicht immer, wenn mehrere Menschen zusammenkommen, sprechen wir jedoch automatisch von einer sozialen Gruppe. Die Menschen, welche zum selben Zeitpunkt über den Bahnhofsvorplatz laufen, werden von uns wohl kaum als Einheit angesehen. Sie befinden sich nur zufällig zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Außer dieser Tatsache eint sie wenig. Auch die Gruppe der Bartträger ist für unsere Betrachtung wenig bedeutsam. Als Trainer interessiert Sie ja etwas anderes, nämlich das, was man in der Soziologie als eine soziale Gruppe bezeichnet. Schauen wir also einmal, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit von einer solchen Gruppe gesprochen werden kann. In der Regel werden dafür drei Faktoren genannt:
1 Gemeinsames Ziel (für eine bestimmte Zeitdauer)
2 Abhängigkeit in der Zielerreichung
3 Bewusstsein dieser Abhängigkeit
Das gemeinsame Zielist ein interessanter Aspekt. Er gibt Ihnen erste Hinweise darauf, wie Sie eine Trainingsgruppe oder eine Mannschaft zusammenbringen können, wenn das erforderlich ist. Das gemeinsame Ziel bildet immer den Ausgangspunkt. Darauf sollten Sie Ihre Spieler oder Athleten jeweils zu Beginn einschwören. Das Ziel weist uns den Weg. Und auf dieses Ziel können Sie immer wieder zurückgreifen. Daran können Sie Ihre Sportler erinnern, wenn der Zusammenhalt verloren geht.
Und es ist etwas Wesentliches, dass man nicht nur ein gemeinsames Ziel hat, sondern in der Erreichung des Ziels auch voneinander abhängig ist. Zwei Konkurrenten haben ebenfalls ein gemeinsames Ziel. Aber sie sind keine soziale Gruppe, weil sie eben nicht aufeinander angewiesen sind, sondern vielmehr sich gegenseitig im Wege stehen. Ganz anders Ihre Mannschaft oder Trainingsgruppe. Sie brauchen einander. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass Athleten oft vergessen, wie sehr es auf ihre Mitstreiter ankommt. Deshalb betone ich diesen Aspekt immer wieder.
Die gegenseitige Abhängigkeit ist etwas Positives.Ich brauche dich und du brauchst mich. Das macht uns beide gleichberechtigt. Jeder Spieler bringt etwas ein, auch der Ersatzspieler. Die Gültigkeit dieser Aussage sieht man spätestens dann, wenn ein Ersatzspieler für Unruhe sorgt. Sofort leidet die Atmosphäre in der gesamten Mannschaft darunter. Deshalb braucht die Mannschaft auch die Reservespieler. Wenn ich anerkennen kann, dass ich die anderen brauche, schätze ich ihren Wert. Und ich kann sicher sein, dass die anderen meinen Wert schätzen. So entsteht ein wirkliches Team.
3.3 Die Gruppe ist wichtiger als das einzelne Mitglied
Ein funktionierendes Team benötigt aber mehr, als die Abhängigkeit von der gemeinsamen Zielerreichung. Ein Team braucht zum Beispiel Regeln. Dabei gibt es ausgesprochene und unausgesprochene Regeln. Beide sind gleich wichtig. Ein Beispielfür ausgesprochene Regeln umfasst all das, was im Strafenkatalog mit Konsequenzen belegt wird, etwa die Pünktlichkeit beim Training oder das Tragen einheitlicher Kleidung während des Wettkampfs.
Unausgesprochene Regeln fallen sehr unterschiedlich aus. Häufig haben sie eine eher subtile Wirkung. Ich habe z. B. bei einer Mannschaft erlebt, dass eine heimliche Regel darin bestand, nicht zu ehrgeizig zu sein. Lieber sollten die Spieler sich zurücknehmen, als den Aufstieg ernsthaft anzustreben, obwohl dieser sportlich möglich gewesen wäre. So boykottierten sie immer wieder durch nachlässiges Auftreten gegen schwache Mannschaften und damit verbundene, „unnötige“ Punktverluste alle sich bietenden Chancen. Wenn aber der Aufstieg außer Reichweite geriet, war die Mannschaft wieder von der unausgesprochenen Regel befreit und zeigte prompt ihr wahres Potenzial, z. B. indem sie den Tabellenführer auswärts schlug.
Unausgesprochene Regeln sind häufig sehr wirksam, gerade weil sie niemals offen gelegt werden und dadurch im Verborgenen wirken. Deshalb ist es für Sie als Trainer wichtig, auf solche Regeln zu achten und sie direkt anzusprechen, wenn Sie einen negativen Einfluss wahrnehmen, auch wenn das manchmal schwierig erscheint, weil Ihnen die „objektiven“ Belege fehlen. Sie vermeiden eine zu negative Reaktion von Seiten der Spieler, wenn Sie dabei nicht besserwisserisch auftreten, sondern Ihre persönlichen Eindrücke als eben solche formulieren. Dann fällt es den Athleten leichter, sich darauf einzulassen, da ihnen Spielraum für ihre eigene Sichtweise gelassen wird. Natürlich gibt es auch unausgesprochene Regeln, die hilfreich sind, etwa wenn gilt, dass zu egoistisches Verhalten einzelner Spieler im Torabschluss unerwünscht ist.
Letzteres Beispiel führt zu einem Punkt, der in meinen Augen von überaus großer Bedeutung ist. Eine Gruppe funktioniert nur dann, wenn grundsätzlich gilt, dass das Wohl der Gemeinschaft vor dem des Einzelnen geht. Nach diesem Prinzip ist interessanterweise auch unsere Rechtsprechung ausgelegt.
So ist es möglich, Grundstücke zu enteignen, wenn dies im Interesse der Allgemeinheit geschieht, etwa zum Bau neuer Autobahnen. Hierbei werden persönliche Bedürfnisse hinter die der Gesamtheit gestellt.
Genauso sollte auch eine Mannschaft bzw. Trainingsgruppe funktionieren. Das bedeutet nicht, dass der Einzelne unwichtig ist. Ganz im Gegenteil! Für den Erfolg der Mannschaft braucht es sogar einen gesunden Egoismus. Was wäre etwa ein Fußballteam ohne den Stürmer, der das Tor machen will? Nur geht in entscheidenden Fragen eben immer das vor, was für die Gesamtheit am besten ist. Ich kenne viele Athleten, die genau an diesem Punkt Probleme haben. Oft erlebt man das bei solchen Sportlern, die sich auf Grund herausragender Erfolge nicht mehr unterordnen wollen.
Einheitliche Kleidung ist ein Mittel, die Zusammengehörigkeit einer Gruppe auszudrücken.
Foto: ©Picture Alliance/dpa
3.4 Jeder beeinflusst jeden
Sicher kennen Sie das Sprichwort: „Das ist für mich so wichtig, als wenn in China ein Sack Reis umfällt.“ Wofür gilt das eigentlich? Kann es uns wirklich noch egal sein, wenn in China „ein Sack Reis umfällt“? Wenn wir Nachrichten schauen, erfahren wir zum Beispiel, wie auf den Philippinen bei einem Zugunglück 12 Menschen umgekommen sind. Und wenn ich beim Chinesen mit hölzernen Einmalessstäbchen speise, trage ich möglicherweise dazu bei, dass auf einer tropischen Insel der Regenwald abgeholzt wird.
Auf den ersten Blick scheint es verrückt, aber die Welt rückt immer näher zusammen. In den letzten Jahrzehnten mussten wir erkennen, dass unser Verhalten sehr wohl etwas mit den Menschen in Guatemala oder Mazedonien zu tun hat. Die Vernetzung durch Internet und Mobiltelefon hat diesen Prozess noch einmal potenziert. Genau betrachtet, verhält es sich so, dass wir alle miteinander verbunden sind. Das ist kein esoterisch angehauchtes Gerede, das ist eine immer konkretere Erfahrung.
Читать дальше