Obwohl es unter der politischen Oberfläche der Ost-Berliner Regierung bereits rumorte, sollte es die missverstandene Arbeitsanweisung eines Parteisprechers sein, welche die Berliner Mauer vorzeitig zum Einsturz brachte – etwas, mit dem niemand gerechnet hatte: Der Sprecher verkündete am Abend des 9. November 1989, dass ostdeutsche Bürger von nun an ohne besondere Papiere problemlos in den Westen reisen könnten. Als Resultat fiel die Mauer und veränderte über Nacht für Millionen von Menschen ihr Leben.
In seiner BBC-Dokumentation von 2013 The Making of Merkel berichtet Filmemacher Andrew Marr, dass Merkel an jenem Abend ihrem üblichen Donnerstag-Ritual frönte – ein Saunabesuch mit Kollegen und anschließendem Bier.37 Doch ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Fall der Mauer dauerte nicht lange. Sie war gerade mal 35 Jahre alt, also noch „jung genug, dass ein Neubeginn mit einer neuen Karriere möglich war,“38 kommentierte ein ehemaliger Freund und Kollege.
Der Sprung von der Physikerin zur Politikerin schien zwar unwahrscheinlich, aber er war laut Filmemacher Marr durchaus möglich: „Sie wollte ihre Macht nutzen – vor dem Fall der Mauer war es die Macht über Moleküle, danach wollte sie ihre Macht auf eine größere Bühne bringen.“39 Angela Merkel war in einer Familie aufgewachsen, in der Politik immer eine große Rolle gespielt hatte und der Samen für ein Interesse daran wurde vielleicht unbewusst schon früh ausgesät. Als plötzlich alle Beschränkungen verschwanden und Merkel offen über Politik sprechen konnte, schien sie ihre wahre Berufung gefunden zu haben.
Merkel begann ihre politische Karriere bei dem Demokratischen Aufbruch (DA), einer politischen mitte-rechts Organisation. Nach eigenen Angaben ist sie einfach in das Büro der DA hineingegangen und fragte, ob sie helfen könnte. Die westdeutsche Regierung hatte zu jenem Zeitpunkt der DA dutzende Computer gespendet, die aus ihren Kartons herausgenommen und angeschlossen werden mussten. Dies wurde Merkels Aufgabe, über die sie später sagte, dass ihr die wissenschaftliche Ausbildung gut zupasskam, um sich mit dem politischen Prozess vertraut zu machen. In einem Interview von 2004 beschreibt Merkel diese Reformation als „Zauber eines neuen Anfangs. Man wird nie wieder so etwas Schönes erleben dürfen.“40
Merkels politische Karriere sollte sich bald in einem beispiellosen Tempo beschleunigen. Hatte sie gerade erst Kartons ausgepackt, so wurde ihr nur sechs Monate später eine Position im deutschen Kabinett angeboten. Die große Preisfrage, so Dokumentarfilmer Marr, ist daher: Wie gelang es Merkel, von einem normalen Mitglied der ostdeutschen Gesellschaft in kurzer Zeit zu einer führenden Politikerin Deutschlands zu werden? Für Marr gibt es nur eine logische Antwort: Sie war die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort.41
Im März 1990 wurden in Ostdeutschland die ersten freien Volkskammerwahlen abgehalten. Hierbei ging der konservative Politiker Lothar de Maizière als Wahlsieger hervor und ernannte Angela Merkel zur Sprecherin seiner neuen Regierung – der ersten und letzten frei- gewählten in der DDR. Sehr zur Überraschung vieler trat Merkel jedoch im April 1990 der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) bei. Der damalige Parteivorsitzende war Helmut Kohl, zugleich Bundeskanzler und Anführer der Wiedervereinigungsbewegung in Westdeutschland. Bei der ersten Bundestagswahl nach der Wiedervereinigung im Dezember 1990 wählten die Bürger in der Region Vorpommern-Rügen Angela Merkel in den Bundestag und die Deutschen wählten Helmut Kohl zum ersten Kanzler des vereinten Deutschlands.
Kohl wollte für sein Kabinett eine Frau und jemanden aus der ehemaligen DDR. Merkel erfüllte gleich beide Voraussetzungen und Kohl ernannte sie zur Ministerin für Frauen und Jugend. Kohl wurde ihr Mentor, nannte sie oft „mein Mädchen“ und stellte sie auch so vor. 1994 beförderte Kohl Merkel zur Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, was ihr eine größere internationale Sichtbarkeit gab und zudem eine geeignete Plattform war, ihre politische Karriere weiter auszubauen. In dieser Zeit war sie für die Organisation der UN-Klimakonferenz in Berlin zuständig, dessen Ergebnis das sogenannte „Berliner Mandat“ war – ein erstes Versprechen der beteiligten Länder, die Emission der Treibhausgase zu reduzieren.42 Merkel war klar, dass sie ihre politische Karriere Helmut Kohl zu verdanken hatte, aber sie wusste auch, dass sie sich von „dem Dicken“ – so wie der korpulente Kanzler in Regierungskreisen genannt wurde – abnabeln muss. Sie drückte es diplomatisch aus: „Ich wusste, dass ich darum kämpfen musste, als Individuum gesehen zu werden. Nicht nur in den Augen von Helmut Kohl, aber in den Augen anderer Leute. Die Menschen hatten bereits eine vorbestimmte Meinung über mich; eine Quotenfrau von links. All das hat mich sehr geärgert.“43
Merkel sollte bald nicht nur Kohl gegenüber beweisen, dass sie eine echte Bereicherung für sein Kabinett und die Administration war: Als Kohl 1998 die Bundestagswahlen verlor und die oppositionelle Sozial Demokratische Partei Deutschlands (SPD) mit ihrem Parteiführer Gerhard Schröder an die Macht kam, wurde sie von der CDU zur neuen Generalsekretärin gewählt. Nur ein Jahr später kam die CDU-Spendenaffäre: Die Partei von Kohl hatte über Jahre hinweg Gelder von Parteifreunden erhalten, diese Summen oder die Spender jedoch nicht veröffentlicht. Kohl weigerte sich, Namen zu nennen, denn schließlich habe er den Spendern sein Ehrenwort gegeben, sie würden anonym bleiben. Die meisten Mitglieder der CDU wollten den Skandal stillschweigend unter den Teppich kehren, aber Merkel hatte eine andere Meinung dazu, oder, wie einige später behaupteten, konkrete Zukunftspläne: Mit einem vernichtenden Leitartikel, der am 22. Dezember 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, forderte sie den Rücktritt von Kohl und ermutigte ihre Partei, ohne ihn vorwärtszugehen: „Denn nur auf einem wahren Fundament kann ein richtiges historisches Bild entstehen. Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden. Diese Erkenntnis muss Helmut Kohl, muss die CDU für sich annehmen. Und nur so wird es der Partei im Übrigen auch gelingen, nicht immer bei jeder neuen Nachricht über eine angebliche Spende angreifbar zu werden.“44
Diese Worte waren politischer Sprengstoff und für Merkel hagelte es Kritik: Für viele war ihr Schritt zu opportunistisch oder gar machiavellistisch. Andere sahen mit diesem Artikel eine Frau, die zu viele Male unterschätzt und unterminiert wurde, und die als kompetente Politikerin ihre eigenen Ziele und Bestrebungen verfolgt. Doch alle waren sich einig: Dieser Artikel markierte einen Wendepunkt in Merkels Karriere – der, mit dem sie sich für die Stelle als Kanzlerin positionierte.
Merkels Beitritt zur CDU hatte von Anfang Verwunderung ausgelöst. Nicht nur besaß die Partei starke patriarchale Züge, ihre Hochburgen lagen im konservativen Westen und Süden Deutschlands, das überwiegend katholische Wurzeln hatte. Merkel jedoch war Protestantin und stammte aus Norddeutschland. Zudem eckte sie mit ihrem Lebensstil an – eine 45-jährige, geschiedene Frau, die mit ihrem ebenfalls geschiedenen Freund zusammenwohnte – und für viele in der Partei kein gutes Beispiel war. Darauf angesprochen gab Merkel zurück, sie sei bereits einmal verheiratet gewesen und wäre nun vorsichtig, nichts zu überstürzen.45
Trotzdem wurden ihr immer wieder Fragen über ihr Privatleben gestellt – Fragen, von denen Autor Matthew Qvortrup behauptet, die ein Mann niemals hätte beantworten müssen. So stellte Merkel immer wieder klar: „Nein, ich habe nicht entschieden, dass ich keine Kinder haben wollte. Als ich in die Politik ging, war ich 35, und jetzt kommt es nicht mehr in Frage.“46 Angela Merkel war jedoch eine wichtige Persönlichkeit in einer konservativen Partei, die an die Werte Kinder, Küche und Kirche appellierte. Mit einer aufgeklärteren Sichtweise über die Frauenrolle aufgewachsen und zudem eine Karrierefrau, fand Merkel es schwer, ständig mit derartigen Fragen bombardiert zu werden – vor allem, da sie diese für irrelevant hielt. Merkel sah jedoch ein, dass sie – wenn sie auf der politischen Bühne Deutschlands eine Hauptrolle spielen wollte – sich dieser Besorgnis zuwenden musste.
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