Die Testpersonen passten sich bei einem Drittel der Durchgänge trotz offensichtlicher Fehlentscheidung der Mehrheit an. Man sollte meinen, eine Lüge bleibt eine Lüge. Auch, wenn sie von Tausenden geglaubt wird. Dem ist aber leider Gottes in dieser Gesellschaft nicht so. Wir schlafen alle, genauso wie die Testpersonen des Konformitätsexperiments von Asch, die das Unrecht hinnahmen; genauso taten wir es doch auch. Die Lüge, wir würden unter einem Monopol, das alle Gesetze und die Wirtschaft reguliert, frei leben. Es war offensichtlich, doch wir nahmen es alle einfach so hin.
Auch das Nichtstun hatte klare Konsequenzen. Einige Wochen vergingen und ich erhielt weitere Mahnungen für Rechnungen, die ich mit meiner Sozialhilfe nicht alle bezahlen konnte.
Auch das Geld, was ich beim Putzen und Betteln sammelte, sollte nicht reichen.
Ich bekam einen Anruf meiner Bank. Ich wusste, was dieser Anruf zu bedeuten hatte. Ich rief die Unternehmen an, denen ich Geld schuldete und versuchte mit aller Kraft, verzweifelt kleinste Ratenbeiträge auszuhandeln. Doch das System nahm mir auch den letzten Funken an Hoffnung, den ich in mir trug. Manipulation gelingt nur bei Menschen, Systeme lassen sich leider nicht durch Steuerung emotionaler Elemente nach eigenem Belieben richten.
Ich konnte die Rechnungen nicht bezahlen, weil ich zu wenig Leistung vom System erhielt. Ich konnte die Rechnungen nicht bezahlen, weil mir das System keine Arbeit gab, und würde ich kriminell werden wie viele vor mir, würde es, sobald ich ins Gefängnis gehen würde, niemanden mehr geben, der die Rechnungen meiner kleinen Schwester zahlen würde.
Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Weinend und schreiend. Mir hatte das System alles genommen und die Konzernmedizin würde es ohne mit der Wimper zu zucken übers Herz bringen, meine Schwester ohne Behandlung in den sicheren Tod zu schicken. Das Gefühl, etwas ändern zu wollen, aber es nicht zu können. Wer kennt es nicht? Es zerreißt einem langsam und schmerzhaft das Herz.
Ich suchte meinen Laptop raus. Mein rot-schwarzer Laptop mit der blauen LED Maus. Er wurde mir als Kind von meinen Eltern geschenkt. Ich war 12. Ich sollte lernen, mit der Technik umzugehen, um später ein guter Mitarbeiter im Konzern zu werden. Doch daraus wurde nichts. In dieser Zeitepoche eine hohe emotionale Intelligenz zu besitzen bedeutet, psychisch labil zu sein. Daraus folgend wurde ich durch das System arbeitsunfähig.
Es musste sich was tun. Mein Kopf arbeitete nun auf Hochtouren. Meine Schwester durfte nicht sterben, ich ging Wahrscheinlichkeitsrechnungen in meinem Kopf durch, durchsuchte Kriminalstatistiken und schmiedete einen Plan.
Durch meine schnelle Auffassungsgabe und mein Verständnis für Technik hatte ich mir in kleinen Schritten das Hacken mit bestimmten Tools beigebracht und diese Tools waren nun meine letzte Hoffnung, um meine Schwester vor dem sicheren Tot zu bewahren.
Über verschiedenste Tricks und Fakes erschuf ich eine Mehrzahl an für Profis leicht zu durchschauenden Fake Identitäten. Ich freundete mich in Bars und sozial beliebten Treffpunkten mit Menschen an, die ich über eine Vielzahl kleiner Hackerangriffe um ihre Vermögen brachte. Da ich immer Fake Identitäten nutze und keiner mich als Freund in Verdacht hatte, würde ich ziemlich abgesichert sein und könnte möglicherweise sogar Rücklagen für die Zukunft bilden. Vielleicht war ich nun nicht besser als das System, das mir jede Möglichkeit nahm, aber ich konnte beschützen, was mir lieb war.
„Ich habe doch gar keine andere Wahl als die Kriminalität!” schrie ich mir selber zu.
Über die Zeit wurde ich im Untergrund der Hacker-Szene immer bekannter und die Medien nannten mich „Oni“, da der einzige Hinweis auf mich von der Einsatz-Abteilung der IT-Polizei ausging und die mich nur bis zu einem Proxy-Server in Japan zurückverfolgen konnten, dachte sich irgendein Witzbold, dass dieser Name wohl zu mir passen würde.
Mir war es relativ, wie sie mich nannten, ich konnte nun meine Rechnungen zahlen und mir blieb am Ende des Monats sogar ein wenig Geld übrig, warum sollte ich nicht die beklauen, die mehr als genug besaßen?
Den Medien war bekannt, dass das Synonym „Oni“ besonders reichen Geschäftsleuten Kleinbeträge abnimmt und die allgemeine Meinung von meiner Hacker-Identität war sehr negativ. Um nicht zu sagen: Die Menschen hassten mich, und das leider Gottes mit Recht. Doch interessieren tat es mich nicht wirklich. Ich nutzte meine Mittel. Ich war besser als jeder von ihnen. Ich wollte beschützen, sie nur reich werden, und wenn was für mich übrigblieb, nahm ich es. Immerhin hatte ich ja auch dafür gearbeitet, diese reichen Kaufleute auszunehmen.
Doch ich hatte nach Wochen des Diebstahls jetzt viel größere Probleme als die öffentliche Meinung meiner selbst.
Ein Mitarbeiter der IT-Polizei gab ein öffentliches Statement per Schreiben, dass sie auf bestem Wege, sind mich zu verhaften.
Das Gesicht der Pressekonferenz kam mir bekannt vor:
“Lass dir eins gesagt sein “Oni”, das, was du tust, tust du ohne Recht, und wir von der IT-Polizei werden dich dafür belangen!”.
Mir lief es kalt den Rücken runter. Hatte ich einen Fehler begangen? Wo habe ich nicht aufgepasst, waren meine Tools und meine Software fehlerhaft?
Ich musste die Schuld von mir weisen. Es gab zwei Dinge, die nicht passieren durften:
Nummer 1: Mein Konto würde gesperrt werden,
Nummer 2: Ich würde ins Gefängnis gehen.
Ich schlich mich in derselben Nacht raus. Ich machte mich auf den Weg zum Finanzdistrikt. Den am besten verdienenden Mann meines Bezirks, diesen würde ich verantwortlich machen. Er würde sich freikaufen und keiner hätte ein Problem. Geld regelt alles in dieser Welt, oder nicht?
Ich kopierte einen Sicherheitsausweis für Besucher in einem Internetshop auf dem Weg und laminierte diesen nach dem Online-Vorbild des aktuellen Besucherausweises. Ich sehe für mein Alter glücklicherweise sehr jung aus. In einer Gasse fing ich an, mich selbst zu verletzen. Ich schlug mir mit aller Kraft einen Ziegelstein auf die Hand und biss dabei in meine Jacke, damit niemand mein Leiden mitbekommen würde.
Mit gebrochener Hand und einigen kleinen blauen Flecken im Gesicht ging ich nun ans Sicherheitstor und sagte, dass ich mein Handy vergessen hätte. Ich hatte den folgenden Trick zwar aus einem Film, aber mir war klar, dass er funktionieren würde.
Auf die erste Absage des Sicherheitsdienstes, mich reinzulassen, erfand ich die Lüge, dass ich doch von einer Gang misshandelt werden würde. Ich hätte Schulden und würde es an sie abgeben. Ich erzählte weinend davon, wie sie mir die Hand brachen, und dass die Polizei nichts unternehmen würde.
Der Sicherheitsdienst sah meine gebrochene Hand und die blauen Flecke, sah sich meinen Besucherausweis ein paar Sekunden an.
Ich sagte wehleidig: „Bitte helfen Sie mir …“
„Mein Gesichtsausdruck gegenüber meinem wahren ich könnte keine größere Differenz tragen.” sagte ich mir selber in Gedanken.
Mit dieser Aussage gab ich ihm aus psychologischer Sicht die Verantwortung für alle Konsequenzen, die diese imaginäre Gang mir antun würde, wenn er nicht Partei für mich ergreifen würde. Es war wichtig, ihn als Menschen anzusprechen und nicht als Sicherheitsdienstes des Finanzdistrikts.
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