”Eigentlich habe ich so einen Namen doch gar nicht verdient …”
Wir sprachen eine Weile über ihr Lieblingsessen. Ich werde nie verstehen, was sie so an Waffeln mit Sahne hatte. Auch sprachen wir über die kulinarischen Dinge, die sie in ihrem Leben noch essen würde.
Wir redeten über Politik und über Moral. Aber irgendwo musste auch Platz dafür sein, ein Kind zu sein. Ich nahm sie huckepack und wir liefen lachend durch das Krankenzimmer.
Wir sprachen über ihren ersten „Brief-Freund” und über die Boyband, die sie so mochte.
Als ich sie zurück ins Bett legte, flüsterte sie mir „Ich habe dich lieb, großer Bruder“ ins Ohr.
„Ich dich auch, aber ich muss los, zum Amt“, erwiderte ich.
Ich sprach noch kurz mit ihrem Psychologen und stempelte mich aus.
Ich verließ das Krankenhaus. Auf dem Weg zum Amt kaufte ich mir ein Frühstücksbrötchen.
Ich war in Trance auf meinen Termin beim Amt fixiert. Ich ging im Kopf alle Unterlagen durch und wie meine Wortwahl gleich auszusehen hätte. Welche Argumente musste ich hervorbringen, wie mussten meine Tonlage und meine Körpersprache in welcher Situation aussehen, um das gewünschte Ziel zu erreichen, was wusste ich über mein Gegenüber?
Als ich an der Kasse war, wollte ich mein Portemonnaie aus meiner Jackentasche ziehen, als ich ungefähr 10 Meter von mir entfernt einen Polizisten einer dunkel gekleideten Person Handschellen anlegen sah. Im nächsten Moment realisierte ich, dass mein Portemonnaie von diesem Jemand geklaut worden war.
Wie konnte ich diesen Typen übersehen? Das wäre mein letztes Geld gewesen.
Der Polizist brachte mir das Portemonnaie und fragte mich in höflichem Ton, ob ich Anzeige erstatten möchte.
Er sieht sehr jung aus, und ich vernehme durch seine Dienstkleidung, dass er wohl zu einer IT-Einheit gehören muss und nur zufällig vor Ort war.
Ich antwortete: „Nein, aber Danke für die Rettung meines Geldes, keiner hat es heutzutage wirklich leicht, oder?“ Er lächelte und entgegnete: „Das ist keine Rechtfertigung für eine Straftat, ich wünsche einen schönen Tag der Herr.“
”Und achten sie auf Ihr Portemonnaie.” Er lächelte erneut und zwinkerte mir zu.
Ich erwidere das Lächeln, nicke und ging mein Frühstück bezahlen. Beim Amt angekommen, setzte ich mich in den Wartebereich und schärfte mein Gehör.
Als meine Sachbearbeiterin die Tür öffnete, vernahm ich eine gestresste Tonlage.
Ich wies sie darauf hin, dass ich ihren Stress verstehen könne, und dass ich mich bemühen würde, den Termin kurz zu halten.
Ihre Körpersprache war mir wie meist, sehr offen und zugeneigt gegenüber. Als sie jedoch ihre Fußposition unterbewusst von mir lenkte, ging ich in meinem Kopf kurz und knapp die schlimmsten Szenarien durch, ich veränderte dabei mein Gesichtsausdruck nicht. Ich nahm Mikroausdrücke des unwohl Befindens bei ihr wahr und analysierte den Schreibtisch nach Unterlagen, die auf Leistungsdruck von oben hinwiesen. Ich entdeckte anhand der vorliegenden Unterlagen, dass sie wohl zu vielen Menschen Sozialhilfe zubilligte und das gegen ihren Willen ändern musste.
In ihrem Gesicht bildete sich Ernsthaftigkeit, doch ich kam ihr zuvor und machte ein sarkastisch gehaltenes Kompliment, um die Stimmung zu lockern. Ich verwies darauf, dass mir bewusst war, dass sie sich an gewisse Zahlen von oben zu halten hatte.
„Sie können mich und meine Schwester doch jetzt nicht hängen lassen.”
Gleichzeitig erkläre ich ihr die Situation von mir und meiner Schwester, das Unwohl befinden in ihr musste größer werden als ihr Leistungsdruck. Die Variable Mensch war auch nach Tausenden von Jahren immer noch der einzige wirklich angreifbare Punkt im System.
Nach kurzem Gespräch sicherte sie mir die Leistung mit einer kleinen Kürzung zu. Ein zufriedenstellender Kompromiss, wenn wir die Ausgangssituation betrachten.
Mir war bewusst, dass unter dieser Entscheidung ein anderer keine Sozialleistungen mehr erhalten wird. Aber das ist nun mal das System, es ist ekelhaft und unfair.
Ich kam zu Hause an und öffnete meine Post. Rechnungen und Mahnungen.
Doch dann trifft es mich wie ein Schlag in die Milz. Mir wird übel. Ich fing mich am alten Holztisch meiner Küche.
Sehr geehrter Herr Hobbs,
es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere Leistungsbeiträge durch den § 17 um 8 % steigen. Bitte richten sie jetzt einen Dauerauftrag per Identifikationsscan ein, um die Patientin Frau Hobbs weiter unter ihrer Rechnung laufen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Die Konzernmedizin
Meine Leistungen wurden vom Amt doch gerade erst um 10 % verringert. Ich gab doch schon 55 % meines Geldes an die Konzernmedizin und nun sollte ich auch noch 8 % mehr an die Konzernmedizin zahlen?
Doch ich fasste mich bei dem Gedanken an das Lächeln meiner Schwester. Ich würde nur noch die Miete bezahlen und den restlichen Tag mit Schuhe putzen und Betteln an die Kaufmänner meiner Stadt verbringen. Ein nicht zufriedenstellendes Leben führte ich ja jetzt schon, da konnte ich auch noch weiter sinken, ohne mich zu schämen.
Meine Schwester war mir das Wichtigste und ich wollte dieser Welt nicht einige der wenigen Hoffnungen auf Besserung nehmen, selbst wenn es heißen würde, dass ich von nun an hungern müsste.
Beim Putzen der Schuhe ließen mich die Menschen spüren, dass ich der unterste Rang ihres Systems war. Ich weinte abends vor Schmerz in der Brust über meine Situation und über den Hass auf das System, aber ändern konnte ich ja doch nichts.
„Verdammter Mist, ich muss doch irgendetwas tun können!”
Letztendlich war ich doch nicht mehr als ein schlafender Kritiker, jemand der sich beschwerte, ohne etwas zu unternehmen. Ich nahm die Welt hin so, wie sie war, da ich so in sie hineingeboren wurde.
Um ein Beispiel zu nennen. Das Konformitätsexperiment von Asch. Der Versuchsaufbau sah folgendermaßen aus: Mehrere Personen saßen an einem großen Konferenztisch. Der Versuchsperson, die diesen Raum betrat, wurde gesagt, es handle sich um andere freiwillige Teilnehmer an diesem Verhaltensexperiment. Die Wahrheit jedoch war, dass alle Anwesenden außer der Versuchsperson Vertraute des Versuchsleiters waren.
Auf einem kleinen Zettel wurde der Gruppe eine Linie dargestellt. Neben dieser Hauptlinie wurden drei weitere Linien gezeigt und es war die Aufgabe der Personen, einzuschätzen, welche dieser drei Vergleichslinien gleich lang wie die Hauptlinie war.
Bei jedem Durchgang war eine der Linien deutlich erkennbar gleich lang wie die Hauptlinie. In der Kontrollgruppe sollten die Vertrauten des Versuchsleiters ihre wahre Einschätzung in der Gruppe äußern, welche Linie die gleich lange sei. Erwartungsgemäß macht die Versuchsperson, die mit den heimlichen Vertrauten am Tisch sitzt, unter dieser Bedingung keinen einzigen Fehler. Das eigene gesunde Menschenverständnis war das gleiche der Gruppe, also wozu die Meinung auch ändern?
In der Experimentalgruppe fanden jeweils 18 Schätzungen statt. Während sechs dieser Durchgänge waren die heimlichen Vertrauten instruiert, ein richtiges Urteil abzugeben, damit diese 6 vertrauenswürdig für die Versuchsperson sind. Während der verbliebenen zwölf Durchgänge, die zufällig unter die 6 anderen Durchgänge gemischt wurden, sollten die Vertrauten einstimmig ein falsches Urteil abgeben. Sie sollten bewusst lügen.
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