Zunächst einmal ist es die penetrante Wiederholung auf allen Kanälen, die dazu führt, dass diese Glaubenssätze so wirkmächtig sind. So richtig tief in das kollektive Bewusstsein dringen sie aber durch den innigen Wunsch der Menschen ein, zur Mehrheit gehören und nicht ausgestoßen werden zu wollen. Übrigens wohl ein Hauptgrund für die Beliebtheit von Angela Merkel. Man möchte keinen Liebesentzug von Mutti. Einmal fest im kollektiven Gedächtnis verankert werden diese Glaubenssätze brav befolgt, nicht hinterfragt und ihrerseits gegenüber Dritten eingefordert und dadurch perpetuiert. Natürlich dürfen die, die sie lautstark medial vertreten haben, so schnell nichts Gegenteiliges behaupten. Doch ansonsten können sie auch die absurdesten Thesen „verkaufen“, Hauptsache die Emotionen stimmen. Die Summe derartiger Glaubenssätze bildet den Zeitgeist. Um wiedergewählt zu werden, müssen Politiker genau wissen, wie der Zeitgeist gerade tickt und schlüpfen deswegen geschickt in den trendigen Reflexiv- und Betroffenheitsmodus. Stets empathisch und bedenkentragend benutzen sie seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts das sogenannte Gefühlssprech, sprechen bei Interviews oder in Talkshows von ihren Ängsten, Gefühlen und Befürchtungen. Schön emotional muss es sein. Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist nicht unbedingt erforderlich, manchmal reicht es schon, früher mal Managerin einer Punkband gewesen zu sein. Hauptsache die Tränen fließen authentisch.
Das einfache Volk imitiert diese Verhaltensweisen einfach. Die dauerreflexiv-sensibel übersteuerten Zeitgenossen, die studieren, entscheiden sich vorzugsweise für Fächer wie Psychologie, Soziologie, Sozialpädagogik oder Kommunikationswissenschaften um den Zeitgeist produktiv zu nutzen. Bloß nicht Physik, Mathematik oder Ingenieurwissenschaften, dann müsste man sich ja mit realen Fakten auseinandersetzen und streng logisch denken können. Aber sie beherrschen den Gefühlssprech perfekt. Wichtig ist, wie man so drauf ist und worauf man gerade Lust hat. Die sozial und emotional kompetentesten Akademiker wissen genau wie der Zeitgeist tickt. In Talkshows sind sie mal freudig-erregt, mal gereizt. Ein demonstrativer und appellativer Aspekt ist in jedem Fall dabei. Mit dieser emotional-kommunikativen Grundausstattung sind ihnen die Sympathien der meisten Zuschauer sicher. Und die aktiven Propagandisten der Reflexivkultur wie Politiker, Lobbyisten und Journalisten glauben selbst daran oder nutzen zumindest den Charme der Reflexivkultur für eigenen Machterhalt.
„Wer Psychologe werden will, braucht selber einen.“
Edmund Stoiber
Von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit sind auch – selbstverständlich – Psychologen und Therapeuten, die nicht nur Patienten behandeln, sondern bei nahezu jeder Berichterstattung über Unfälle, Geiselnahmen oder Naturkatastrophen als wesentliches Element für die Bewältigung dieser Ereignisse nicht fehlen dürfen. In Endlosschleife wiederholt steht für die Allgemeinheit fest: keine Traumabewältigung ohne Psychologen, denn überall schallt es in den Medien: Die Opfer befinden sich in psychologischer Betreuung. Selbst bei Krimis wird der Zuschauer Zeuge, wie Kommissare beim Anblick eines Mordopfers anfangen zu weinen. Clint Eastwood wäre das nie passiert.
Der zwischenzeitlich in das EU-Parlament entsorgte ehemalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber bemerkte einmal: „Wer Psychologe werden will, braucht selber einen“. Zweifellos ein Klischee, aber auch Klischees bilden Wirklichkeit ab. Unter den 631 Parlamentariern des 18. Deutschen Bundestages befinden sich gerade einmal vier Psychologen, null Psychotherapeuten. Wenn es um harte Arbeit und Entscheidungen geht – und Politiker absolvieren ein hohes Arbeitspensum von 12 bis 16 Stunden pro Tag – hält sich die Berufsgruppe der Psychologen und Therapeuten vornehm zurück.
Schön im Trend liegt auch der Coach, der meint, für jede seelische Krise eine professionelle Heilmethode kreiert zu haben. Natürlich ohne wissenschaftlich fundierte Qualitätsstandards. Mittlerweile scheint es für jede Tätigkeit oder Befindlichkeit einen Coach zu geben, für Wellness, Entspannung, Gesundheit, Trauer oder Ein- und Ausatmen. So manch gecoachter Klient mag ja mit der Beratung durchaus zufrieden zu sein. Doch gerade dann sollte man besonders skeptisch sein. So hat eine über 30 Jahre laufende Studie an 500 Kriminellen in den USA ergeben, dass gegen Ende des Beobachtungszeitraumes gerade die psychologisch Betreuten mehr Vorstrafen hatten, als die nicht psychologisch Betreuten. Hier war es so, dass die Zeit besser heilte als die Therapie.
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