Als Datenjournalisten sind wir mit diesen Gesetzmässigkeiten vertraut. Wir nutzen sie, um Geschichten zu erzählen: Wer weiss, wie man Aufmerksamkeit erzeugt, hat eine grössere Chance, wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig müssen wir auf der Hut sein. Denn viele Schlagzeilen, die auf einer Grafik beruhen, lassen sich mit einer anderen Grafik relativieren. Um damit klarzukommen, braucht es neben einer sauberen Methodik auch Fachwissen, das wir uns in der Literatur oder im Gespräch mit Expertinnen aneignen. So können wir begründen, warum wir eine bestimmte Darstellung bevorzugen – zum Beispiel zu der Frage, wie viele Stunden pro Woche Frauen und Männer im Schnitt arbeiten. Wie sich diese Werte im Verlauf des letzten Jahrhunderts verändert haben, steht hier.
In drei Jahren «lange Sicht» haben wir unsere eigene Art entwickelt, mit dem Spannungsfeld aus Wissenschaft, Handwerkskunst und Journalismus umzugehen. Bei jeder Datengeschichte, die wir schreiben, achten wir auf eine Reihe von ganz bestimmten Grundsätzen:
Jede Leserin muss nachvollziehen können, wie eine bestimmte Aussage zustande kommt . Wir schreiben nicht über die demografische Alterung, um zu polemisieren oder um etwa Angst davor zu schüren, irgendwann würden wir alle «keine Rente mehr erhalten». Sondern, um aufzuzeigen, wie eine wichtige Kenngrösse wie der Altersquotient (das ist die Anzahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den Erwerbstätigen) überhaupt berechnet wird und welche Faktoren diese Kerngrösse bestimmt (Spoiler: Es sind Geburtenrate und Lebenserwartung).
Hinter diesem Vorgehen steht die Überzeugung, dass wir als Bürgerinnen ein tiefes Verständnis der thematischen Zusammenhänge entwickeln müssen, um gesellschaftlich und politisch überhaupt rational handeln zu können. In jeder Datengeschichte achten wir deshalb auf sorgfältige und verständliche Erklärungen. Wie sich der Altersquotient in der Schweiz bis ins Jahr 2050 entwickeln wird, erfahren Sie übrigens hier.
Die Methode ist ein fester Teil der Geschichte . Wie kommen beispielsweise die schönen Klimastreifen zustande: jene blau-roten Illustrationen, die man inzwischen sogar auf T-Shirts und Flipflops druckt? Bei genauem Hinsehen zeigt sich: Wer solche Grafiken herstellen will, muss zuerst eine Reihe von Fragen beantworten. Fragen, die entscheidend dafür sind, wie das Endprodukt aussieht und welche Reaktionen es bei der Betrachterin hervorruft.
Solche bewussten Entscheide zu thematisieren und dabei herauszustreichen, zu welchen Aussagen sie jeweils führen, ist uns sehr wichtig. Warum, lesen Sie im Beitrag über die Klimastreifen am besten selbst nach – hier(apropos: Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, wir wechseln in unseren Texten, dort, wo es um eine allgemeine Personengruppe geht, konsequent zwischen männlichen und weiblichen Formen ab).
Wir stellen das Visier möglichst weit ein . Wie viel Zucker möchten Sie in Ihren Kaffee? «Zehn Prozent mehr als letztes Mal.» Informationen wie diese sind komplett nutzlos, wenn man den Kontext nicht kennt. Doch genau nach diesem Muster werden sehr viele Newsmeldungen verfasst. Man blickt nur sehr kurz in die Vergangenheit zurück.
Anders arbeiten wir in der «langen Sicht» (und darum heisst die Kolumne auch so): Hier versuchen wir, Zahlen auf möglichst breiter Vergleichsbasis oder im Rahmen einer möglichst langfristigen Entwicklung zu zeigen. Ein Beispiel dafür ist die Schweizer Wirtschaft: Dass sie nicht mehr so wächst wie vor hundert Jahren, ist eigentlich kein Wunder. Denn die Wirtschaft wurde strukturell komplett umgekrempelt, es machen nur noch wenige Sektoren wirklich vorwärts. Welche? Das zeigt der Beitrag hier.
Quellen durchforsten, Daten analysieren, Grafikvarianten ausprobieren, Interpretationen überprüfen, Fachleute befragen, Dramaturgien entwickeln, Texte schreiben: Für all dies nehmen wir uns in der «langen Sicht» als Autoren und in der Gruppe jeweils viel Zeit. Jede unserer Datengeschichten soll ein ebenso erhellendes wie kurzweiliges Leseerlebnis sein.
Hätten Sie gedacht:
—dass Strom in Frankreich grün ist, in Deutschland violett und in der Schweiz türkis?
—dass die politische Landschaft der USA immer mehr einem Tannzapfen gleicht?
—dass Schweizer Parteien in einem umgekehrten Hufeisen zueinander stehen?
Wir ebenfalls nicht, als wir die betreffenden Beiträge in Angriff nahmen. Doch fast immer haben wir festgestellt, dass es eine originelle Art gibt, rigorose Datenanalysen mit inspirierender Visualisierung und spielerischem Erzählen zu verbinden. Und genau deshalb hat uns die Arbeit an der «langen Sicht» auch so unglaublich viel Freude gemacht. Wir hoffen, Ihnen einen Teil dieser Freude beim Lesen weiterzugeben.
Simon Schmid
Publiziert am 25.01.2021
9 Minuten
Wenn die Videocall-Software Zoom gleich viel wert ist wie die zehn grössten Airlines zusammen, dann hat die Pandemie einiges auf den Kopf gestellt. Vier erstaunliche Grafiken zur neuen Börsenwelt nach der Corona-Pandemie.
WIRTSCHAFT
Um einen privaten Event live zu übertragen, habe ich letztes Jahr einen Pro-Zugang von Zoom abonniert. Kostenpunkt: 15 Dollar pro Monat. Offensichtlich war ich nicht der Einzige, der sich während der Pandemie an Videocalls gewöhnen musste. Mehrere Hundert Millionen Userinnen und User halten sich täglich in Zoom-Meetings auf. Eine halbe Million Kleinunternehmen nutzen Zoom professionell. Das sind bemerkenswerte Zahlen.
Schade, habe ich nicht auch Aktien von Zoom gekauft. Die Techfirma mit Sitz im kalifornischen San José ist eine absolute Senkrechtstarterin. In knapp zwei Jahren hat sich ihr Kurs verfünffacht. Zoom ist damit nicht nur eines der erfolgreichsten Software-Start-ups aller Zeiten, sondern die Firma hat auch eine Art Schallmauer durchbrochen. Sie hat nämlich inzwischen einen Wert von über 100 Milliarden Dollar.
Zoom (G1)bringt damit an der Börse einen ähnlich grossen Marktwert auf die Waage wie die zehn grössten Airlines der Welt zusammengezählt. Um zu verstehen, wie ein solch enormes Wachstum in so rascher Zeit möglich ist, muss man etwas ausholen.
Zoom wurde 2011 vom chinesischen Netzwerkingenieur Eric Yuan gegründet. Das Start-up durchlief eine Bilderbuchkarriere: 2013 wurde die Software veröffentlicht, ein Videoconferencing-Tool mit Chatfunktion. 2017 kam die Investmentfirma Sequoia Capital mit 100 Millionen Dollar an Bord, 2019 folgte schliesslich der Börsengang.
Schon damals wurde Zoom von Anlegern sportlich bewertet. Die Firma erzielte gerade einmal sechs Millionen Dollar Betriebsgewinn und war trotzdem 20 Milliarden Dollar wert – ein Verhältnis von 1 zu 3333. Solche Bewertungen sind nur unter der Annahme gerechtfertigt, dass ein Unternehmen seinen Gewinn in der Zukunft enorm steigern kann. Völlig falsch waren diese Erwartungen nicht. Tatsächlich ist Zoom stark gewachsen: Der Betriebsgewinn beträgt mittlerweile rund 400 Millionen Dollar. Und so hat sich auch das Verhältnis etwas normalisiert. Der Börsenwert von Zoom ist «nur» noch rund 270-mal so hoch wie der Gewinn.
Dieser Wert ist nach wie vor extrem hoch. Besonders im Vergleich mit den Airlines: Sie werden – gemessen am Gewinn vor der Pandemie – zu einem bloss sechsmal so hohen Wert gehandelt. Das zeigt: Die Pandemie hat die Wirtschaft auf den Kopf gestellt.
G1 |
ZOOM VS. AIRLINESVideocalls werden wichtiger als Businesstrips |
Börsenwert in US-Dollar. Zur IAG (International Airlines Group) zählen unter anderem die British Airways. QUELLE: companiesmarketcap.com
Читать дальше