Ich mag Picassos Tauben nicht.
Ich bin in Gedanken, als sich drei Gesichter zwischen mich und die Tauben schieben. Meine Freundin beugt sich über den Tisch und fragt lächelnd: »Wo bist du denn?«
»Na hier.«
Sie lächelt und zwei hübsche Frauen, die an ihren Ohren hängen, lachen auch. Die Frauen streichen mit dem Hals über ihre Schultern und ihre dunkelblaue Seidenbluse. Sie setzt sich auf den zweiten Stuhl. Meine Freundin redet. Sie lacht. Ich lache. Sie lacht laut. Ich lache und verfolge mit starrem Blick ihre Worte. Obwohl sie sich bemüht, voller Begeisterung zu sprechen, sind ihre Worte kraftlos. Ich verfolge sie, sie wirken wie Arbeiter aus einem Straflager mit Ketten an den Füßen, sie bewegen sich hintereinander in einer Linie, nacheinander fliegen sie auf. Beim Sprechen bewegt sie ihren Kopf und die hängenden Frauen tanzen.
Im Radio wird ein Song gespielt, den ich noch nie gehört habe:
»Ich gehe nicht weg
Hab’ meine Frist verlängert
Neue Zeitreise
Offene Welt
Habe dich sicher
In meiner Seele
Ich trag’ dich bei mir
Bis der Vorhang fällt« 2
2 Bis der Vorhang fällt« 2 2 Herbert Grönemeyer: »Der Weg«.
Herbert Grönemeyer: »Der Weg«.
Es gibt Wörter, bei denen ich wünsche, dass sie nur mir eingefallen wären und nur mir gehörten. Ich würde sie irgendwo in einem Kästchen verstecken, damit sie kein gewöhnlicher Mensch, kein Dichter, kein Prophet findet. Ich habe das Gefühl, als Gott daran ging, dich zu erschaffen, knetete er mit seinen Händen den Lehm und anstelle eines Duftes gab er solche Worte dazu. Man muss sie lieben und verehren und aus allen Wörterbüchern entfernen.
Die Wörter aus deinem Munde waren so, sie waren eine Offenbarung für mich.
Sie spricht. Sie redet und möchte mich davon überzeugen, dass sie woanders erfolgreicher sein wird als hier, dass es in Amerika mehr Platz für ihre Wünsche gibt. Sie hat ihren Entschluss gefasst und möchte auch mich davon überzeugen, dass es die beste Lösung sei. Sie redet unentwegt. Ihr Blick fällt auf die Zeitung und die Überschrift des Artikels, den ich gerade gelesen habe. Sie schaut mich an und sagt: »Komm doch mit.«
Ihre Ohrhänger bewegen sich, aber in den Gesichtern ist kein Lächeln mehr zu sehen. Der Duft von Kaffee zieht mir in die Nase und überdeckt den des Jasmins. Sie stellt die Tasse auf dem Untersetzer ab. Ich merke, dass sie ihre Beklommenheit hinunterschluckt. Ihre Lippen zittern. Als ob der Krater eines Vulkans bebt. Sie hält ihre Gefühle zurück. Ich versuche, mir das Zusammenspiel der Farben vorzustellen, die rote Farbe der Beklommenheit, die wie Lava dort unten auf einen sich öffnenden Spalt wartet, damit sie emporschießen kann. Aber sie trinkt Kaffee und sein dunkles Braun legt sich wie Erde auf die Lava. Jetzt verhindert er den Ausbruch. Mit einer Papierserviette tupft sie sich den Mund ab. Ich sehe die rote Spur ihres Lippenstifts darauf. Ihre Worte höre ich nicht mehr, ich schaue nur auf den roten Abdruck.
Wenn Frauen heiraten, gehen manche schon am ersten Tag ganz still zugrunde. Viele von ihnen, die verliebt waren und ans Ziel ihrer Wünsche gelangten, halten sich für glücklich. Weil sie denken, sie seien immer noch verliebt. Weil sie denken, dass der Alltag Liebe bedeutet. Nach und nach setzt sich der Staub von Tagen und Nächten auf ihre Liebe. Ein Stück davon stellen sie jeden Tag einfach auf die Flamme ihres Gasherds, ein Stück von ihren Träumen braten sie jeden Tag mit Salz, Öl und guten Gewürzen an. Ein anderes Stück tragen sie zwei, drei Mal in der Woche zur Waschmaschine, geben ausreichend Waschmittel dazu, sodass es gewaschen wird und den Alltagsgeruch verliert. Ein anderer Teil kommt zu festgelegten Zeiten, wenn sie das Kind zur Schule bringen oder abholen müssen, unterwegs auf dem Asphalt unter die Räder eines Autos und wird zerquetscht. Die Reste werden auf den meist unvermeidlichen Partys am Wochenende von zu engen, peinigenden BHs erstickt.
Wenn sie Essen kochen, schmeckt es umso besser, je mehr Stücke ihrer Liebe, der verblichenen Überreste ihrer Liebe, darin schwimmen. Die Scherben ihrer Illusionen und Träume vergraben sie nachts in ihren Betten.
Die Frauen sterben jeden Tag tausend Tode und je nachdem, wie viele von ihren Träumen sie am Vortag erstickt haben, tragen sie am nächsten Morgen ihren Lippenstift kräftiger auf.
Wann immer ich eine Frau mit übermäßig geschminkten Lippen sehe, schaue ich ihr in die Augen. Blicke lügen nicht. Wenn man mich fragt, was die wunderbarste Schöpfung auf der Erde sei, antworte ich: die Augen.
Die Augen sind das direkte Fenster zum Menschen selbst, zum »Ich«, zu dem, was man als Seele des Menschen bezeichnet. Augen offenbaren Lügen. Augen verkünden Liebe. Augen geben dir hinter einem berauschten Lachen zu verstehen, dass all das Lachen Lug und Trug ist, das dieser vor Glück trunken aussehende Mensch über seinen Schmerz gießt.
Ehrliche Blicke, verliebte Blicke, Blicke eines Freundes. Wie sehr vermisse ich diese Blicke. Alles, was es hier gibt, sind höfliche Blicke, distanzierte Blicke.
Deine Augen hat Hafis besungen.
Meine Freundin redet immer noch. Sie schickt sich an, die Stadt für immer zu verlassen. Aus einer orangefarbenen Tüte holt sie eine blaue Schachtel.
Ich sehe mir die Schuhe an, die sie für die Reise gekauft hat. In zwei Tagen wird sie schon unterwegs sein. Sie nimmt einen Schuh, zieht ihn an und streckt ihr Bein neben dem Tisch aus. Ein Paar Schuhe mit roten Sohlen und einer schwarzen Schleife. Sie sind schön.
Sie hat sich für die Reise neue Schuhe gekauft, ich habe meine Schuhe für einen Neuanfang ausgezogen.
Es ist schwer, über einen Boden zu gehen, der dir nicht gehört, in dem du nicht verwurzelt bist, mit dem du keine Erinnerungen verknüpfst. Das Gehen auf unbekanntem Boden ist schwer, das Hinfallen auf unbekanntem Boden ist furchtbar.
Es ist schön, über fremden Boden zu gehen. Vor deinen Füßen breitet sich ein Weg für eine Entdeckung aus. Das Wetter, die Menschen, die Bäume, die Straßen – alles ist neu, wie ein ungelesenes Buch.
Ich wurde von vertrautem Boden weggeschleudert, mitten an einen Ort mit verschiedensten Wegen und der Verlockung, Neues zu entdecken. In mir war die Lust am Lesen, die Lust am Verstehen der Sprache eines Landes, von dem ich keine Vorstellungen hatte. Vielleicht war es eine Wiedergeburt.
Ich musste nur loslaufen und mir alles erobern: Straßen, Menschen, Berge, Täler, Wälder und die Zeit. Ich musste mit nackten Füßen über Steine, Erde, Lehm und Holzspäne gehen. Ich musste Schuhe und Strümpfe ausziehen und in Kauf nehmen, dass mich Splitter verletzen und meine Füße Schwielen und Blasen bekommen. Dies war der Preis, den der neue Weg und die neue Welt von mir forderten, um mich aufzunehmen und Erinnerungen für meine Zukunft zu erzeugen.
Leben bedeutet Erinnerung, ein Weg, der sich an dich erinnert.
Jetzt haben die Ziegel des fremden Landes meinen Geruch aufgesogen, ich fühle mich in den Fugen seiner Mauern heimisch. Ich vermag nicht zu sagen, ob mein Ich noch als Ganzes existiert. Jedes einzelne Stückchen von mir habe ich in einer Ecke dieses Landes eingepflanzt. Auf den Wegen, die ich gegangen bin, an den Flüssen, in den Städten, den Wäldern, den Cafés, überall habe ich einen Teil von mir vergraben. So viel, dass ich manchmal das Gefühl habe, von mir ist nichts mehr geblieben.
Leben heißt vergessen. Das heißt, du zwingst dich selbst zu der Annahme, dass deine Geschichte genau hier beginnt. Genau an dem Punkt, an dem du stehst.
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