Wie groß ist doch jetzt der Unterschied zwischen dieser und meiner alten Welt, meilenweit entfernt von den »Anderen«. Ich stehe auf und verabschiede mich, dabei schaue ich verstohlen auf den Boden rechts neben meinem Sessel. Aber dort ist nichts. Mir gefällt die Farbe meiner Kleidung nicht mehr, die der ihrer Haare gleicht.
Meine Beine sind schwer. Ich schleppe mich zum Auto. Was hat sie gesagt? Das Mädchen wird zu Hause unter Druck gesetzt, damit sie lernt? Warum meint sie, dass meine Tochter nur deswegen diese Noten erreicht haben kann? Warum denkt sie, dass sie es nicht wert ist, sehr gute Noten zu bekommen? Warum denkt sie, dass ein Kind unter Zwang steht, wenn es nur auf Einsen fixiert ist? Sagt sie das auch anderen Eltern?
Warum hat sie mir die Freude über das Zeugnis meiner Tochter verdorben? Warum haben ihre Bemerkungen dazu geführt, dass ich nach Fehlern bei mir selbst suche? Hat meine Tochter das lähmende Streben nach Vollkommenheit geerbt, das mir die Familie von Kindheit an eingeimpft hat?
Ein Stich durchzuckt meinen Kopf.
Ich öffne die Autotür. Noch immer klingen mir die Worte der Lehrerin in den Ohren: »Lassen Sie Ihre Tochter Fehler machen, bringen Sie ihr bei, dass nicht alles richtig sein muss, was sie macht.«
Warum hat mir dann niemand erlaubt, einen Fehler zu machen?
Du warst der schönste Fehler meines Lebens und ich wünschte, ich hätte solch einen Fehler öfter begangen. All die Jahre trage ich die Sehnsucht in mir, dich wiederzusehen. Ich habe die verblichenen Erinnerungen an dich so lange auf dem Boden hinter mir hergezerrt, damit sie zerfetzt und zerstückelt werden und ich erleichtert bin, dass sie nicht mehr da sind. Aber wo auch immer ich hinging, warst du mir nah und hast in mir geatmet, sodass mein Weg, meine Welt – ich versuche, es zu leugnen –, ja selbst die Luft, die mich umgibt, nach dir riecht. Du bist in mir.
Es ist Freitagnachmittag und in der Stadt ist es voll.
Mit dem Freitag beginnt das Wochenende. Alle Menschen auf den Straßen scheinen auf einmal gutgelaunt. Als ob die Zeit sie losgelassen hätte. Als ob die Zügel vom Karren der Zeit abgerissen seien. Freitags geht es hier allen gut.
Es nieselt. Autos, Geschäfte und Straßenlaternen streuen Licht auf die nassen Straßen. Das Pflaster in den Gassen glänzt und reflektiert das Licht der aufgereihten bunten Lampen und der kleinen und großen Sterne, die über mir ein Dach bilden. Die Gasse ist hübsch. Die ganze Stadt ist hübsch. Nicht einmal die Gleichgültigkeit der Passanten, die erschöpft von den Einkäufen in der Vorweihnachtszeit das schöne Spiel von Wasser und Licht auf dem Boden nicht wahrnehmen, schmälert diese Schönheit. Ich genieße sie. Aber diese Bilder werden auf einmal vom Nebel anderer Freitagnachmittage eingehüllt. Ich trage das Erbe der Freitage einer anderen Welt in mir.
Die Freitagnachmittage sind eine Art Konfrontation. Als ob man plötzlich einen Spiegel vor den halboffenen Augen aufstellt, die wie von Krankheit gezeichnet aussehen, wie gerade aus einer Klinik entlassen. Man sieht sich im Spiegel. Man ist dieselbe, die in der Woche mit sich und der Welt zufrieden ist und ihr Dasein in vollen Zügen genießt. Man ist dieselbe, die während der Woche ihren Schmerz und ihre Probleme als winzige Tropfen hinuntergeschluckt hat, damit sie verschwinden. Damit sie nicht vorhanden sind. Auf einmal kommt der Freitagnachmittag und der Mensch wird gläsern. Alle diese Tröpfchen kann man dann im Spiegel sehen. Wie sie kreisen und im Innern einen Tanz aufführen. Plötzlich kommt eine Hand und verbindet mit scharfer Spitze all die schön blinkenden, kleinen Schmerzen miteinander, die klar wie Wasser sind. Jetzt ist der Mensch durchsichtig geworden, sodass man in ihm die Spuren des Schmerzes sehen kann. Und die kleinen Kümmernisse, die nun keine Tropfen mehr sind, beginnen ineinanderzufließen, gehen in das Blut über, steigen auf bis in die Kehle und schnüren einem die Luft ab.
Man sehnt sich danach, dass diese Höllenqualen enden. Dass wieder eine neue Woche beginnt und man vergisst. Dass der Wecker klingelt und die Zeit das Regime übernimmt und die Spuren des Schmerzes und des Kummers unter dem Montag begräbt. Dass alles wieder winzig, ganz winzig wird, und in meinem Ich bis zum nächsten Martyrium kreist. Bis der nächste Freitag kommt.
Immer freitags wirft man einen Blick zurück auf den Kummer, den man an den vergangenen Tagen hinuntergeschluckt hat. Es ist eine Art Wiederbegegnung. Man muss die Freitage begraben unter den Samstagen, unter Partys und Vergnügungen am Wochenende.
Meine Tochter besucht den Klavierunterricht und ich habe in dieser Zeit eine Verabredung. In einem Café. Ich öffne die Tür. Alle Cafés haben eine gemütliche Ecke. Herrenlose Ecken. Ecken, die niemandem gehören, aber wenn du sie betrittst, scheinen sie auf dich zu warten.
Ich nehme eine Zeitung vom Tresen und setze mich an einen Tisch mit zwei Stühlen. Eine gelbe Blume in der Farbe der Stuhlkissen steht in einer kleinen Glasvase darauf. Die Tische und Stühle aus Holz sind alt. Die Stühle sind die gleichen, die unsere Großväter in ihren Räumen hatten, wir nannten sie polnische Stühle. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kamen polnische Flüchtlinge nach Iran. Vielleicht konnte einer von ihnen seinen Stuhl auf diese lange Reise mitnehmen, oder er baute einen solchen Stuhl in der Fremde als Erinnerung an die Heimat. Ich weiß es nicht.
Ich setze mich auf die Erinnerung.
Ich bestelle einen Jasmintee und blättere in der Zeitung. Der Autor eines Artikels über die Wahlergebnisse äußert sich besorgt über die Erfolge der Rechten. Von den Umfragen und Nachrichten wird mir übel. Nachrichten, die immer schlecht sind. Wenn es doch einen Tag im Kalender mit einer Feuerpause für Nachrichten gäbe. Einen Tag, an dem sich weder etwas ereignen noch eine Nachricht erzeugt oder verbreitet würde. Einen Tag, an dem weder jemand geboren noch sterben würde. Einen Tag ohne Nachrichten zum Entspannen für die Menschen auf der ganzen Welt.
Der Tee wird serviert. Der Jasminduft versetzt sogar die Sekunden in einen Rausch. Ich umfasse das Teeglas mit beiden Händen. Dann halte ich es wie gewöhnlich an meine Wangen. Die angenehme Wärme und der Duft des Tees strömen in meinen Körper. Man muss diesen Tee hier trinken. Was auch immer du zu Hause tust, nie wird dich der Duft des Jasmins so berauschen wie im Café.
Das Leben ist auf merkwürdige Weise kompliziert.
Das Leben ist auf merkwürdige Weise einfach.
Dieser Gegensatz bringt es mit sich, dass viele von uns mit dem Leben nicht zurechtkommen. Das Leben leichtnehmen zu können, muss ein Mensch im Blut haben. Es gibt keine Kurse, in die man gehen kann, um sich einige Stunden oder Semester hinzusetzen und dies zu lernen. Das Leben ist voller Erfahrungen, voller Prüfungen und Irrtümer. Aber die Erfahrungen des einen passen nicht immer zu den Bedürfnissen des anderen. Durchlittener Schmerz des einen verhindert nicht künftige Schmerzen eines anderen.
Das Leben ist kein Teebeutel, den man in ein Glas hängt, um dann der Anleitung folgen zu können: Gießen Sie kochendes Wasser darüber, lassen Sie ihn zehn Minuten ziehen und genießen Sie ihn dann.
Ich trinke Tee und schaue aus dem Fenster. Drei dicke, weiße Tauben suchen in aller Ruhe und Bedächtigkeit nach Brotkrumen unter einem Tisch vor dem Café, über dem als Schutz vor dem Regen ein Schirm aufgespannt ist. Ich versuche, mich in Picasso hineinzuversetzen und herauszufinden, was er in diesen Lebewesen gesehen hat. Ein weißer Vogel mit einem Olivenzweig im Schnabel, der sich emporschwingt, mit den Flügeln schlägt und die Friedensbotschaft denjenigen überbringt, die ihre Blicke in Erwartung dieses Boten zum Himmel gerichtet haben. Picassos Taube fliegt in meinen Gedanken, als auf einmal eine weitere dicke Taube von gar nicht so weit oben bei diesen dreien landet und sie vertreibt, um die Brotkrümel aufzupicken.
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