Diese an sich für jede Geschichtsschreibung gültige Behauptung gewinnt im Zusammenhang mit der Französischen Revolution an besonderer Prägnanz; zwei Gründe seien hierfür angeführt. Erstens: Wir befinden uns mittlerweile in der fünften oder sechsten Generation der Revolutionshistoriographierung. Die Revolution selbst wird nur noch selten als historisches Ereignis, sondern gemeinhin als Problemstellung der Historiographie gehandhabt; wir begegnen fast keiner eigentlichen »Geschichte der Französischen Revolution« mehr, sondern eher historiographischen Diskursen über die Geschichtsschreibung dieser »Geschichte«. Und dennoch – so behaupten wir – haben sich die Hauptkodes der Matrix, hat sich die ursprüngliche Kode-Matrix der Französischen Revolution, auch in ihrer fünften oder sechsten Ableitung, nicht wesentlich geändert. Es ist frappant, wie »gegenwärtig« die Französische Revolution noch immer ist.
Zweitens: Es läßt sich schwerlich ein historisches Ereignis aufzeigen, das in einem relativ kurzen Zeitraum eine solche Fülle widerspruchsvoller Motive aufweist, wie das französische Geschehen zwischen den Jahren 1789 und 1799. Der diese Zeitspanne behandelnde Historiker trifft auf extrem unterschiedliche Staatsformen, auf fortwährenden Wechsel der Dominanz verschiedener sozialer Schichten und auf historische Auftritte von bis dahin anonymen gesellschaftlichen Gruppen, er begegnet einer intensiven Konzentration organisierten Tötens neben Erscheinungen schier unbezähmbaren Freiheitshungers, und er verfolgt erstaunliche strukturelle und mentale Veränderungen, vehement geführte politische und soziale Kämpfe, sowie eine Ansammlung überaus bemerkenswerter Führungsgestalten. Die Matrix des Historikers der Französischen Revolution ist besonders reichhaltig und mannigfaltig angefüllt, und jeder dieser motivischen Kodes kann sowohl als Grundlage einer polemisch-ideologischen Kontroverse herangezogen als auch als Rohmaterial für die Gestaltung nahezu atavistischer Symbole gebraucht werden – wie sich der von Martin Göhring gelieferten Darstellung der Ermordung Marats entnehmen läßt: Charlotte Corday erreicht das Zimmer Marats.
»Alles ist von erschreckender Einfachheit, alles starrt vor Schmutz, die Luft des Raumes ist unerträglich; ein Gefühl des Ekels überkommt die Besucherin. Sie steht vor Marat, sieht seinen entblößten, abgemagerten, von Schwären zerfressenen Oberkörper, sieht seine Züge, die Leidenschaften, Haß und Krankheiten verwüstet haben; sie sieht einen bereits vom Tode gezeichneten Menschen. Kaum jemals trafen größere Gegensätze aufeinander: hier die verkörperte Reinheit und Schönheit, die blonde Tochter des Nordens, dort die Verworfenheit und Häßlichkeit in der verfallenden, zerfressenen Hülle des Südländers. Und das Eigenartige: sie bekennen sich zu gemeinsamen geistigen Vätern. Bei ihr haben sie das Göttliche entzündet, bei ihm das Dämonische.« 144
Es handelt sich hierbei weder um die Schrift eines frustrierten Exil-Aristokraten noch um die eines erbitterten Konservativen aus dem 19. Jahrhundert, sondern um eine Anfang der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts publizierte Darstellung von einem deutschen Liberalen, der im Vorwort zu seinem Buch feststellt, »unsere demokratischen Ideale« fußten in einer Tradition, welche durch »die große Revolution, die Frankreich erfaßte und umwandelte«, bestimmt worden sei. 145Gleichwohl hievt die dramatische Szene der Ermordung Marats Göhring in eine Assoziationssphäre, aus der sowohl ein verdichtetes ideologisches Paradigma eines der Höhepunkte der Revolutionskämpfe als auch ein eklektisches Konglomerat von Aussagen, welche augenscheinlich wenig mit dem eigentlichen historischen Ereignis zu tun haben, erwächst:
Marat (»Volksfreund«, wie er von seinen Anhängern genannt wird, und Vertreter der unteren sozialen Schichten) wird als ein häßlicher, sich in Schmutz wälzender, in seinem Körper von Krankheit, in seiner Seele von Haß zerfressener Verworfener dargestellt. Corday, Vertreterin des reichen und gebildeten Bürgertums, ist nichts als Schönheit und Reinheit. Solche Gegensätze müssen den Kampf auf Leben und Tod auslösen; stellt sich doch hier das »Göttliche« unentrinnbar dem »Dämonischen« entgegen, gleichsam wie in Miltons »Verlorenem Paradies« die himmlischen Scharen Satans Truppen entgegentreten müssen. Konkret: Wir sind Zeugen einer symbolisierten Konfrontation zwischen den sansculottischen Massen der Jakobiner und der girondistischen Bourgeoisie. In dieser Weise wird die Botschaft übermittelt, daß Marat, jakobinische Personifikation einer Herrschaft der »Masse«, vernichtet werden müsse, wenn das »Gute« siegreich aus dem Konflikt hervorgehen soll. Dies ist (laut Göhring) auch der Grund dafür, daß sich viele Franzosen mit Charlotte Corday identifizierten, und daß ihnen die Mordtat neue Hoffnung einflößte: »So gewannen sie das Vertrauen in die guten Kräfte zurück, und die Tat Charlotte Cordays wirkte bei ihnen versöhnend.« 146
Die Angst des Bürgertums vor der Masse, die sich in Göhrings Beschreibung als Angst vor Marat, dem »Motor der Revolution« 147, darstellt, drückt sich auch in der Dialektik der Symbiose beider Gestalten aus: Göhring neutralisiert die im Motiv »der Schönen und des Tieres« enthaltene latente Sexualität, indem er Marats Leidenschaften als zerstörerisch begreift und seine Häßlichkeit an seine Verworfenheit heftet; so erhalten Sensualität und Affekte negative Vorzeichen, und als Charakteristika der Masse werden sie gar in den Stand von Feinden des gesitteten Bürgertums erhoben. In Wahrheit sind diese Gegner aber untrennbar aneinander gekettet: Beide sind Republikaner, Produkte der bürgerlichen Gesellschaft mit gleichen »geistigen Vätern«; hatte doch schon Engels festgestellt: »Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehen ohne Lohnarbeiter […]« 148. In der von Horkheimer und Adorno durchgeführten Odysseus-Parabel entfaltet sich dann das Symbiose-Motiv in der umfassenden Tragweite einer geschichtsträchtigen allegorischen Verdichtung:
Odysseus hat die Prüfungen Kirkes, der Gottheit, in deren Macht es liegt, den Menschen in ein Tier rückzuverwandeln, bestanden. Dafür hat sie ihm Kraft eingegeben, damit er anderen Mächten der Auflösung standhalte. Die Lockung der Sirenen bleibt jedoch übermächtig; niemand kann ihrem Gesang widerstehen. »Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war.« Odysseus kennt nur zwei Wege, um der Zwangssituation zu entrinnen. Den einen trägt er seinen Männern auf: Er verstopft ihre Ohren mit Wachs, und sie müssen nach Leibeskräften rudern. »Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt.« Die Arbeitenden müssen konzentriert nach vorne blicken, ohne das auf der Seite Liegende zu beachten. »DenTrieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren.« Den anderen Weg wählt der die Gefährten für sich arbeiten lassende Odysseus selber:
»Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker läßt er sich fesseln […]. Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos, nur mit dem Haupt vermag er zu winken, ihn loszubinden, aber es ist zu spät, die Gefährten, die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Liedes, nicht von seiner Schönheit, und lassen ihn am Mast, um ihn und sich zu retten. Sie reproduzieren das Leben des Unterdrückers in eins mit dem eigenen, und jener vermag nicht mehr aus seiner gesellschaftlichen Rolle herauszutreten.« 149
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