Sie küssten sich, bis Nats Brille wieder beschlagen war und sie beide halb erfroren waren.
»Also«, sagte Nat erneut. Seine Stimme klang so rau, als hätte er zwei Stunden lang gebrüllt. Die Wangen waren gerötet, vielleicht vom Wind, vielleicht vom Küssen. »Es wird langsam kalt. Was hältst du davon, wenn wir zu mir fahren und einen teambildenden Spieleabend veranstalten? Nur wir zwei?«
Jean war zutiefst schockiert, aber das ließ er sich nicht anmerken. Er war nämlich auch zutiefst dafür.
»Klar«, sagte er und merkte, dass er selbst klang, als hätte er ein Fußballspiel lang durchgegrölt. »Ich mag Spieleabende.«
Also«, sagte Sofie und drehte ihre Bierflasche hin und her. Melancholische Gitarrenklänge schwallten durch den Raum bis an den winzigen Tisch, an dem sie mit Cassa saß. Die Bar war fast leer. War wohl zu ungemütlich draußen, hinter den beschlagenen Scheiben. Draußen war es dunkel, aber die Bar war erfüllt von Lampen. Die himbeerroten an der Bar, die alle Flaschen dort einfärbten, sowie unzählige kleine Kugelleuchten an den Wänden und an der Decke.
»Ja?« Cassa legte den Kopf schief. Sie experimentierte mit einem neuen Stil und hatte sich in etwas gehüllt, das aussah wie ein fünf Nummern zu großer lachsfarbener Pyjama. Dazu trug sie Kampfstiefel, die Sofie stark an ihre Wächteruniform erinnerten. »Sorry, ich hab dich ja gar nicht zu Wort kommen lassen. Was ist?«
»Nicht schlimm.« Sofie selbst trug Schwarz. Wie immer. »War schön, alles zu hören, was letzte Woche passiert ist. Ich … puh.« Unauffällig sah sie sich um. Niemand lauschte. Die Theke war weit genug entfernt. Die zwei Tische in der Nähe leer. »Also.«
»Ja?« Cassas Augen leuchteten auf. »Was ist? Hast du endlich jemanden kennengelernt?«
Das übliche Thema. Sofie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist … etwas schwierig zu erklären. Erinnerst du dich an meine Freunde?«
»Die von deiner neuen Arbeit? Klar. Die scheinen nett zu sein.« Cassa griff nun selbst zu ihrem Bier. Sie drehte es hin und her. »Stellst du sie mir irgendwann richtig vor? Ich meine … es ist lange her. Dein Kumpel mit der Sonnenallergie hat mich zu einem Spieleabend eingeladen. Ich meine … Ich weiß, dass die dir viel bedeuten. Deshalb würde ich sie ja gern kennenlernen. Ich weiß gerade nichts über dich. Nur, dass du dauernd verletzt nach Hause kommst. Soffie, ich glaube, deine Arbeit ist echt …« Sie hob die Hände, bevor Sofie protestieren konnte. »Ich weiß. Du willst nichts anderes machen. Ich mache mir nur Sorgen um dich.«
»Ich weiß. Ich … Meine Arbeit ist wichtiger als du denkst.« Sofie musterte die Decke, die mattschwarz gestrichen war und versuchte, sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Als sie sie nicht fand, begnügte sie sich mit der Wahrheit. »Ich bin eine Hexe, Cassa.«
»Sag das nicht.« Cassa verzog das Gesicht. »Du bist toll. Du …« Ihre Augen wurden schmal. Sie musterte Sofie und etwas in ihrem Gesicht brachte sie wohl dazu, innezuhalten. »Sprich weiter.«
Sofie sah sich noch einmal um, dann holte sie tief Luft. »Ich bin eine Hexe und damit bin ich Teil der magischen Welt. In Wahrheit arbeite ich nicht für eine Securityfirma. Ich beschütze die magischen Wesen von Berlin, meistens vor anderen magischen Wesen. Meine neuen Freunde sind mein Team.« Es tat gut, es auszusprechen. Alles.
Cassa blinzelte. »Was?«
»Ich … schau mal.« Sofie griff nach dem winzigen Kaktus, der auf ihrem Tisch stand. Sie hielt die Hände darüber, sah sich noch einmal um und ließ dann eine Blüte wachsen.
»He, das sah aus, als wäre die Blüte gerade gewachsen«, sagte Cassa. »Wie hast du das gemacht?«
»Magie.« Sofie strich über das violette Blütenblatt. »Ich kann Pflanzen wuchern lassen. Ich kann noch ein paar andere Sachen, aber damit lassen sie mich kaum rumprobieren, weil ich beim letzten Mal alles verdampft habe. Das lag aber nur daran, dass Onkel Lars reingewalzt ist wie ein Nashornbulle … Alles gut soweit?«
Cassa blinzelte. Sehr langsam streckte sie die Hand nach ihrem Bier aus. Umschloss den Hals. Schluckte. »Moment. Ich brauche einen Moment.«
Sofie nickte. Sie schwiegen, immer wieder an ihrem Bären-Bräu nippend. Bis die Flaschen leer waren. Die Kellnerin fragte, ob sie neue wollten. Cassa bestellte Starkbier.
»Ja dann«, sagte sie, als die Kellnerin weg war. »Dann weiß ich das jetzt auch. Warum hast du mir nie davon erzählt?«
»Ich wusste es nicht. Ich habe es erst im Sommer herausgekriegt. Bei der Sache mit den Ratten.«
»Igitt. Die, wegen denen du nicht mehr im Koval arbeitest?« Cassa schüttelte sich. »Gut, dass du da gekündigt hast.«
»Ja.« Sofie zögerte. »Du erinnerst dich nicht daran, oder? An die Sache mit dem Rattenkönig?«
Cassas Gesichtsausdruck war Antwort genug.
»Denk nicht darüber nach«, sagte Sofie. »Es ist besser so.«
»Aber ich will darüber nachdenken. Was war da los?« Cassa runzelte die Stirn. »Ich weiß nur noch, dass wir nach Dennis gesucht haben. Die arme Sau. Aber das war doch alles. Wir haben ihn nicht gefunden, du hast gekündigt und jetzt bist du Securitymitarbeiterin … Magische Securitymitarbeiterin?«
»Wächterin.« Sofie legte ihre Hand auf den Tisch, mit der Innenseite nach oben. »Cassa, ich weiß, das ist viel zu verdauen. Und ich bin echt nicht die Beste darin, dir das schonend beizubringen. Aber ich wollte es dir endlich sagen. Es fühlt sich falsch an, dir ständig etwas vorzulügen.«
»Das ist lieb. Ah!« Die Kellnerin tauchte auf und Cassa nahm das Starkbier entgegen, als könnte es ihr Leben retten. »Danke!«
Erneut wartete Sofie, bis die Kellnerin verschwunden war. Dann lehnte sie sich vor. »Cassa, ich will dir echt keine Angst machen. Wenn du willst, kannst du das alles sofort vergessen. Ich hab das passende Zeug dabei.«
»Auf gar keinen Fall!« Cassa packte ihre Hand und drückte sie. »Erzähl mir mehr. Was für ein Rattenkönig?«
Sofie erzählte es ihr. Es dauerte eine ganze Weile. Es dauerte noch länger, Cassa halbwegs ins Bild davon zu setzen, was in den letzten Monaten passiert war. Das Schlimmste sparte sie sich für später auf: Isas Tod und Adina. Davon konnte sie immer noch erzählen, wenn Cassa nicht mehr vollkommen entsetzt davon war, dass es Vampire gab. Obwohl, entsetzt war das falsche Wort.
»Und diese Vampire, sind die sexy?«, fragte Cassa, die ein ausgeprägtes Gespür für Prioritäten hatte. »Sind die wie im Film, so mit wehenden schwarzen Mänteln? Oder mehr wie in Horrorfilmen, so Nacktmulle mit Glatze und Klauen?«
»Nein, so sehen eher Ghule aus. Vampire sind etwas schneller und widerstandsfähiger als Menschen, aber sie sehen ganz normal aus. Nur blass und … zahniger.«
»Geil.« Cassa grinste schwach. »Okay, sobald ich das hier verdaut habe, will ich ein paar Vampire sehen, klar?«
Sofie fragte sich, ob Nat ihren Ansprüchen genügte. Vermutlich dachte sie eher an jemanden wie Nikolas, nur heterosexueller. »Ja, klar. Wenn du das willst.«
»Ich will.«
»Dann füll bitte diese Blätter aus.« Sie griff in ihren Rucksack und holte einen minimal verknickten Stapel heraus.
»Was?«
Sofie legte einen Kuli dazu, den sie als Werbegeschenk erhalten hatte, beim Kauf einer Packung Tampons und einer Ersatzzahnbürste, mit der sie sich nach besonders ekligen Einsätzen den Mund sauber schrubbte. Sie wollte nie wieder mit dem Geschmack von Ghulblut im Mund heimfahren müssen. Cassa drehte den Kuli und las die Aufschrift.
»Drogerie Drachenzahn?«, fragte sie und sah dann auf den Stapel Papiere. »Soffie, was sind das für Papiere?«
Читать дальше